Grundrechte-Report 2003

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Bela Rogalla, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Markus Detjen, Ulrich Finckh, Wolfgang Kaleck, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Marek Schauer, Jürgen Seifert, Karl-Ludwig Sommer, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2003, ISBN 3-499-23419-X, 238 Seiten, 9.90 €
 

Sönke Hilbrans

Europa ohne Datenschutz. Die Entrechtung reisender Globalisierungskritiker beginnt im Inland

Grundrechte-Report 2003, S. 45-49

Vor den politischen Großereignissen von Göteborg, Genua, Laeken, Barcelona, Prag und Florenz diskutierten die Innenminister der EU-Mitgliedstaaten lautstark ihre Sicherheitskonzepte und übertrafen sich gegenseitig mit Vorschlägen für ein hartes internationales Durchgreifen gegen die erwarteten Proteste. Im Zeitraffertempo laufen dabei Koordinierungs- und Angleichungsprozesse ab, die denen in der Innenministerkonferenz des Bundes und der Länder (IMK) vergleichbar sind. Europäische Innenpolitik ist Realität geworden.

Ebenfalls im Zeitraffertempo hat sich seit Mitte der 90er Jahre in der Europäischen Union eine rechtliche und institutionelle Infrastruktur etabliert, welche das Versprechen eines «Raumes der Freiheit, Sicherheit und des Rechts» realisieren soll: Das Schengener Informationssystem (SIS), polizeiliche Kooperation auf der Grundlage des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ), erleichterte Rechtshilfe auf der Grundlage des EU- Rechtshilfeabkommens (EURHÜ) und das Europäische Polizeiamt (Europol) – um nur einen Ausschnitt zu nennen. Diese Instrumente erleichtern die Kooperation der nationalen Sicherheitsbehörden, sei es durch Bereitstellung leistungsfähiger grenzüberschreitender Schnittstellen (in der Bundesrepublik ist das Bundeskriminalamt nationale «Zentralstelle») oder durch zentralen Informationsservice (SIS, Europol). Hinzu kommt, dass sich die nationalen Rechtsordnungen selbst der internationalen Kooperation geöffnet haben. Der einheitliche Polizeiraum EU holt die Entwicklung nach, die der einheitliche Wirtschaftsraum bereits durchlaufen hat.

Diese Entwicklung bekommen diejenigen zu spüren, die von ihrer Reisefreiheit in Europa politischen Gebrauch machen: Die hohe Zahl von Zurückweisungen, Verhaftungen und Abschiebungen vor politischen Großereignissen geht zumeist auf polizeiliche Erkenntnisse zurück, die aus den Herkunftsländern stammen. Traurige Berühmtheit erlangte während des EU-Gipfels in Genua die «deutsche Liste», anhand derer Reisende aus der Masse der Kontrollierten herausgegriffen und einer Sonderbehandlung unterzogen wurden (siehe die Beiträge von Burkhard Hirsch und Annelie Buntenbach im Grundrechte-Report 2002). In der Masse der Fälle mussten geringfügige, länger zurückliegende und eingestellte Strafverfahren, Platzverweise oder schlichte Mutmaßungen für die mühsame Konstruktion einer gewaltbereiten Globalisierungsgegnerschaft herhalten. Viele angebliche Erkenntnisse erwiesen sich zudem als falsch oder völlig überholt. In der Masse der Fälle war die Abstempelung zur Gefahr für die öffentliche Sicherheit haltlos und beruhte auf ungeprüften und unzureichenden Informationen, deren Herkunft häufig auch noch unklar war. Gleichwohl werden derartige Informationen als gesicherte Erkenntnisse an ausländische Polizeien weitergegeben. Kern dieser Kooperation gegen die Globalisierungskritik ist in der Bundesrepublik derzeit die INPOL-Datei «Gewalttäter (links)» (LIMO) des BKA (vergleiche dazu den Beitrag von Thilo Weichert in diesem Buch). Dieses ist deswegen Preisträger des Big Brother Award 2002 in der Kategorie «Behörden und Verwaltung», den der Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e. V. (FoeBud) verleiht.

Der internationale «Kampf» gegen die «militante» Globalisierungskritik ist eine lichtscheue Veranstaltung. An vollmundigen Planungen über die Einbindung europäischer Institutionen (insbesondere Europol, dessen Anschluss an das SIS beschlossene Sache ist) mangelt es nicht. Die Definition politisch motivierter Demonstrationskriminalität als «Terrorismus» wird die Bereitstellung der nationalen Datenbanken für grenzüberschreitende Nutzung und die Errichtung einer zentralen europaweiten Datei bei Europol absehbar erheblich fördern. Eine SIS-Datenbank über «Demonstranten» und «Terroristen» ist nach Presseberichten ebenso in Planung. Mit der Entsendung von Verbindungsbeamten des BKA an die Schauplätze polizeilicher Großeinsätze steht den Behörden der Gastländer schon heute der Informationshorizont des BKA prinzipiell zur Verfügung. Welche Konsequenzen die Behörden der Gastländer aus den übermittelten Informationen ziehen, bleibt allein diesen überlassen. Durch Datenübermittlung erst ermöglichte Überprüfung und Verdächtigung politisch Reisender in den Gastländern führt umgekehrt zu einem polizeilichen Echo im Herkunftsland – informationelle polizeiliche Zusammenarbeit verstärkt sich selbst.

Diesen für sie nicht nachvollziehbaren Informationsströmen stehen die Betroffenen praktisch machtlos gegenüber. Es gibt zwar auf europäischer Ebene einen unbestrittenen Datenschutzstandard (einschließlich Auskunft, unabhängiger Datenschutzkontrolle, Prüfung und gegebenenfalls Löschung). Diese Rechte werden vom Gesetzgeber aber regelmäßig eingeschränkt. Bei der Polizei stehen sie ausnahmslos unter dem Vorbehalt der sicherheitsbehördlichen Verdeckungs- und Verwendungserfordernisse. Dadurch haben die Betroffenen keinerlei Sicherheit, ob und wie effektiv der Datenschutz in den Gastländern ist. Und das Gerüst international verbindlicher Regeln für polizeiliche Datenverarbeitung ist mehr als dünn. Zudem sind Fälle bekannt geworden, in denen die Polizei im Gastland die Zusicherung einer Löschung nicht eingehalten hat. Die differenzierten und für die Betroffenen uneinsehbaren rechtlichen Verantwortlichkeiten bei polizeilicher Datenübermittlung erschweren den Datenschutz und den (nachträglichen) Rechtsschutz ebenso wie die Abhängigkeit von einer Auskunft durch die Polizei. Unterschiedliche nationale und internationale Rechtsschutzkonzepte und schließlich der praktisch sehr aufwändige Zugang zu einem zuständigen ausländischen Gericht runden das Bild eines prohibitiv konstruierten Rechtsschutzsystems
ab.

Die Vernetzung der Polizeien in der Europäischen Union erweitert damit die faktisch kontrollfreien Räume, die jede polizeiliche Datenverarbeitung etabliert. Gerade politische Großereignisse und der dann regelmäßig ausbrechende ‹Ausnahmezustand› potenzieren das Risiko, unbegründeten und erheblichen Verletzungen der Grundrechte ausgesetzt zu werden – die Entrechtung politisch Reisender beginnt im Inland.

Die Betroffenen sind dabei gegen polizeiliche Vorverurteilungen praktisch schutzlos. Vor allem wirksamer Rechtsschutz existiert nicht. Darauf reagierten anlässlich des European Social Fo rums in Florenz im November 2002 nicht zum ersten Mal so genannte legal teams, eine Art von Ermittlungsausschuss zu dem jeweiligen Gipfelereignis gebildet, an den italienischen Grenzübergängen, um die Reise- und Demonstrationsfreiheit effektiver schützen zu können. Der Schutz vor polizeilicher Datenverarbeitung bleibt für die Betroffenen weiterhin ein Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner.

Literatur

www.bigbrotherawards.de
Antworten der Bundesregierung auf Anfragen der Abgeordneten Ulla Jelpke, BT-Drs. 14/5376 und 14/6769