Grundrechte-Report 2003

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Bela Rogalla, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Markus Detjen, Ulrich Finckh, Wolfgang Kaleck, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Marek Schauer, Jürgen Seifert, Karl-Ludwig Sommer, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2003, ISBN 3-499-23419-X, 238 Seiten, 9.90 €
 

Jürgen Kühling

Das Ende der Privatheit. Der Grundrechtsschutz braucht neue Bündnisse – auch mit dem Staat

Grundrechte-Report 2003, S. 15-23

Eine Durchsicht der zurückliegenden und des vorliegenden Bandes des Grundrechte-Reports zeigt, dass die zunehmenden Restriktionen den Grundrechtekatalog des Grundgesetzes ungleich treffen. Weniger beeinträchtigt erscheinen – solange es um Deutsche geht – etwa Berufs-, Koalitions- und Religionsfreiheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freizügigkeit, die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Forschung. Schwer betroffen sind hingegen die Rechte von Ausländern und Immigranten, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief- und Fernmeldegeheimnis. Das Letztere darf man getrost als Totalverlust abschreiben, nachdem inzwischen buchstäblich jedes Telefonat abgehört wird, sei es – in geringerem Maße – durch legale Maßnahmen staatlicher Behörden, sei es – umfassend – durch fremde Geheimdienste. Übrigens werden unsere Gespräche, soweit sie über Funkstrecken ins Ausland gehen, auch vom BND vollständig abgehört.

Verlust der Privatheit

Die generelle Zielrichtung der fortschreitenden Grundrechtsbeschränkungen seit den Notstandsgesetzen der späten 60er Jahre lässt sich mit dem Begriff der «Privatheit» umschreiben (Hasse16 mer). Privatheit, das Rückzugsgebiet des Bürgers vor den forschenden Blicken anderer, geht zunehmend verloren.

Eine objektive Beschreibung der Verluste ist in all den Grundrechte- Reports der vergangenen Jahre und auch des vorliegenden Buches verzeichnet und nachzulesen. Nachzutragen bleibt die Erosion in den Köpfen unserer Mitbürger. Entgegen den Verheißungen des Volkszählungsurteils kann heute niemand mehr zuverlässig sagen, in welchen Computern und Netzwerken seine persönlichen Daten gespeichert sind und wer sie auf Knopfdruck abrufen kann. Es gilt als normal, dass jedes Hotel, in dem man eingekehrt ist, Name und Anschrift, Kreditkartennummer und vielleicht noch andere Informationen speichert und beliebig lange vorhält. Man nimmt ohne weiteres hin, dass die Bahn wie selbstverständlich das Passfoto speichert, das man für die Bahncard eingereicht hat. Welche Behörden im Einzelnen welche Daten vorhalten und an wen sie sie weitergeben (dürfen), wissen nur noch Fachleute. Banken, bei denen man ein Konto unterhält, wollen alles Mögliche über die Lebenslage ihrer Kunden wissen, erfahren es auch und bewahren es in den Grüften ihrer Speicherbänke. Auf Straßen und Plätzen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Kaufhäusern und Tankstellen – nirgendwo weiß man sich vor Videokameras sicher, die nicht nur spähen, sondern auch speichern und vielleicht heute schon identifizieren können. Dem Telefon trauen nur noch Ahnungslose. Die Erfolge der Telefonüberwachung beruhen im Wesentlichen darauf, dass die Behörden bei einschlägigem Verdacht die verschlüsselte Sprache leicht durchschauen können. Wenn zwei im Drogengeschäft Tätige sich am Telefon über Jogging unterhalten, kann die mithörende Stelle leicht Treffpunkte, Mengen und Preise heraushören und ihre Fahndung danach ausrichten.

Dem E-Mail-Verkehr werden tunlichst keine Geheimnisse mehr anvertraut. Das gilt nicht nur für den geschäftlichen, son17 dern auch für den privaten Verkehr. Internetnutzer verlassen sich nicht mehr auf ihre Anonymität. Unterredungen über wirklich vertrauliche Angelegenheiten führen vorsichtige Leute nicht mehr in der eigenen Wohnung oder den eigenen Geschäftsräumen. Wer in einer politisch randständigen Versammlung, einer fundamentalistischen Sekte oder der Vorbereitungsgruppe für eine Demonstration das Wort ergreift, wer dort auch nur auftaucht, träumt des Nachts von den V-Leuten, deren Anwesenheit er fürchten muss. Und nur wer in Beruf und Bett völlig angepasst lebt, genießt noch die Zuversicht, dass bei einer Sicherheitsüberprüfung nichts Nachteiliges über ihn ausgepackt und dann weitergereicht wird, dass keine diskriminierenden Fakten und Verdachtsmomente hinter seinem Rücken an den Arbeitgeber übermittelt werden und ihm dann auf geheimnisvolle Weise sein ganzes Berufsleben ruinieren, wie das etwa in einem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall geschehen ist (BVerfGE 101, 106). Eine Sicherheitsüberprüfung steht etwa schon dann ins Haus, wenn man sich um einen Job bei einem Reinigungsdienst bewirbt, der für einen Flughafen arbeitet.

Im allgemeinen Bewusstsein hat es sich längst eingenistet: Vor den Mächtigen, die unser Leben beherrschen, gibt es kein Geheimnis. Wenn es darauf ankommt, erfahren sie es: der Arbeitgeber, die Sparkasse, die Hotelkette, der Verfassungsschutz, der Parteivorsitzende, die CIA, die Sozialbehörden, die Schule, die Kripo. Dass über einen Peilsender am Auto jederzeit dessen dienstliche und außerdienstliche Benutzung aufgezeichnet werden kann, hat sich herumgesprochen und prägt das Lebensgefühl der betroffenen Arbeitnehmer. Man ahnt, dass die über das schnurlose Telefon geführten Gespräche vielleicht vom Nachbarn mit Hilfe eines marktgängigen Geräts mitgehört werden. Seitensprünge, Besuche in Sexshops und Pornokinos, Eskapaden – der ängstliche Blick über die Schulter, die besorgte Umschau nach verborgenen Kame18 ras oder Mikrofonen gehören dazu; der Zweifel, ob man beobachtet worden ist, bleibt.

Privatheit ist notwendig

Bürgerrechtsorganisationen haben diese Entwicklung engagiert und kritisch verfolgt. Sie haben Bürger mobilisiert, Verantwortliche zur Rede gestellt, Sachverstand aufgeboten, Argumente und Informationen verbreitet. Die Appelle und Warnungen dringen jedoch nicht durch; die vor allem um ihre Sicherheit besorgte Mehrheit der Bevölkerung ist nur allzu bereit, sich den Einschränkungen ihrer Rechte zu unterwerfen, wenn ihr eine höhere Effizienz der Verbrechensbekämpfung und der Gefahrenabwehr versprochen wird. Wer meint, er habe nichts zu verbergen, schert sich wenig um Telefonüberwachung durch Polizei und Justiz, um Videokontrollen auf öffentlichen Straßen und Plätzen, um große und kleine Lauschangriffe. Ja, es scheint, als ob Privatheit überhaupt an Wert verloren hat. Reality-Shows, fernsehöffentliche Entblößungen, freimütige TV-Interviews über das eigene Sexleben sind normale Fernsehkost der späten Abendstunden, und die Akteure erwartet nach ihren Auftritten zu Hause kein Ansehensverlust, sondern Anerkennung und Bewunderung.

Haben sich die Bürgerrechtsorganisationen von der Realität unserer Gesellschaft entfernt? Ihre Mitgliederzahlen gehen zurück. Kämpfen sie um ein Gut, dessen Wert immer geringer eingeschätzt wird, von dem man ohne Bedauern jedem neuen Ansinnen der Sicherheitsbehörden ein Stück opfert? Vielleicht. Wie tief der Wunsch nach Privatheit in uns verankert ist, welchen Stellenwert sie in der Skala der elementaren Bedürfnisse einnimmt, wer vermag es genau zu sagen. In archaischen Gesellschaften, in den Weilern der Naturvölker gab und gibt es kaum Privatheit. Sie ist eine Errungenschaft der Verstädterung unserer Gesellschaft, erst in historischer Zeit entstanden. Vielleicht nimmt sie deshalb im Gefühlshaushalt der Menschen nur eine marginale Rolle ein: ein Luxusartikel des Stadtbürgers, den man gegen Bares dem Fernsehpublikum preisgibt und um den man wenig Aufhebens macht, wenn der Staat ihn einkassiert und dafür tief sitzende Ängste beruhigt. Und vielleicht wird durch diese ungleiche Akzentuierung von Privatheit und Sicherheitsbedürfnis im menschlichen Gefühlshaushalt die Versuchung der Politiker und Sicherheitsapparate genährt, sich mit immer weiter gehenden Restriktionen Zuwächse an Macht und Popularität zu verschaffen.

Aber Privatheit ist kein Luxusartikel. Sie ist der Raum, in dem der Mensch seine Identität bestimmt, den er für seine Selbstfindung benötigt. Der Anspruch auf eine geschützte Privatsphäre wurzelt in der Garantie der Menschenwürde. Privatheit gehört zu den Strukturbedingungen einer funktionierenden Demokratie, nicht weniger als etwa die Presse- und Meinungsfreiheit. In der Schutzzone der Privatheit nimmt die Partizipation des aktiven Staatsbürgers am politischen Prozess ihren Anfang. Hier, im Familien- und Freundeskreis, in persönlichen Briefen und Tagebüchern, an Stammtischen, Straßenecken und in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Schulhöfen und in Vereinen, in Bett, Bus und Büro entwickeln sich die Tendenzen der öffentlichen Meinung, keimen Werturteile, Kritik und Protest. Grundbedingung für diesen Vorgang ist der ungenierte Austausch, die Freiheit zu schmähen und zu preisen, die unverfälschte Lust am Räsonnieren und Argumentieren, am Dozieren und Spotten, am Verfluchen und Vergöttern. Unverfälscht und ungeniert redet, lacht, flucht und schmäht aber nur, wer sich unbelauscht und unbeobachtet
weiß.

Das Telefon ist als Medium für diesen elementaren Prozess schon weitgehend verdorben. Um die E-Mail Kontakte steht es nicht besser. Vorsicht und Zurückhaltung sind bei vielen Menschen schon so sehr zur Gewohnheit geworden, dass sie sich dessen kaum noch bewusst sind. Heikles und Subversives, Deftiges und Bedenkliches, Intimes und Boshaftes werden unterdrückt, abgeschwächt oder verschlüsselt. Wenn man bedenkt, in welchem Umfang das Telefon und zunehmend die E-Mail auch der privaten Kommunikation dienen, wiegt der Verlust für die Demokratie schwer. Es ist abzusehen, dass auch in öffentlichen Räumen das Gefühl, beobachtet und belauscht zu werden, wachsen wird. Nachdem inzwischen selbst die eigenen vier Wände objektiv nicht mehr vor Lauschangriffen sicher sind, droht ein Zivilisationsverlust, der unsere Demokratie verändern wird.

Schutzanspruch für Freiheitsrechte

Im Visier der Bürgerrechtsorganisationen ist das Eindringen des Staates mit seinen repressiven und präventiven Organen. Diese Blickrichtung bleibt richtig und wichtig. Die Diskussionen um die Antiterrorgesetze lassen daran keinen Zweifel. Doch die Freiheitsrechte sind auch von anderer Seite bedroht. Die Chefetagen der großen Wirtschaftsunternehmen sind Machtzentren, die Menschenschicksale bestimmen und ihren Profitinteressen unterwerfen. Geheimdienste anderer Staaten hören unsere Telefongespräche in weit größerem Umfang ab als offizielle staatliche Stellen unseres Landes im Rahmen der gerichtlich angeordneten Telefonüberwachung.

Gegen diese Bedrohungen der Bürgerfreiheiten durch private Mächte ist der Staat zum Schutz verpflichtet. Den Freiheitsrechten des Grundgesetzes wohnt ein Schutzgebot inne. Der Staat darf nicht untätig zusehen, wenn Grundrechte im Privatrechtsverkehr, im Arbeitsverhältnis, in den Medien oder anderswo verletzt wer21 den. Dieser Aspekt des aktiven Grundrechtsschutzes ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fest etabliert. Welche Schutzmaßnahmen ergriffen werden sollen, müssen in erster Linie die staatlichen Stellen in eigener Verantwortung entscheiden. Der Handlungsspielraum ist auch deshalb beträchtlich, weil sich bei Konflikten unter Privaten gewöhnlich zwei Grundrechtspositionen so gegenüberstehen, dass der Schutz der einen Position nur auf Kosten der anderen erreicht werden kann. Aber es gibt eine untere Interventionsgrenze, an der der Staat handeln muss, um seinem verfassungsrechtlich verankerten Schutzauftrag gerecht zu werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat Schutzpflichten etwa im Arbeitsverhältnis eingefordert, so beim Kündigungsschutz oder im Zusammenhang mit einem kritischen Artikel eines Lehrlings in einer Schülerzeitung. Eingegriffen hat es auf dieser Grundlage auch in das Vertragsrecht, und zwar zugunsten einer unerfahrenen und vermögenslosen Frau, die zur Übernahme einer unverantwortlichen Bürgschaftsverpflichtung gedrängt worden war. Schließlich sind auch die beiden Abtreibungsurteile Beispiele für das Bemühen um staatliche Schutzpflichten zugunsten von Grundrechten.

Schutz der Freiheitsrechte einfordern

Bürgerrechtsvereinigungen müssen stärker als bisher die Schutzpflichten des Staates einfordern. Es ist an der Zeit, den Staat auch als Verbündeten im Kampf um die Verwirklichung von Menschenwürde und Freiheitsrechten wahrzunehmen. Das ist zwar eine ungewohnte Sicht für Organisationen, die bisher ihr Hauptaugenmerk auf die Wahrung von Bürgerfreiheiten vor staatlichen Eingriffen richten. Aber sie ist auch nicht neu. Im Grundrechte Report 2002 haben sich Peter Grottian mit der verdeckten Armut in unserer Gesellschaft und Tobias Baur mit menschenunwürdigen Bedingungen in Pflegeheimen befasst und damit Schutzpflichten des Staates angemahnt. Welch ein weites Feld sich hier eröffnet, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Umweltbelastungen auch Grundrechtsgefährdungen darstellen, dass Bildungsnotstand gleichzeitig Grundrechtsnotstand bedeutet, dass Arbeitnehmerschutz auch Grundrechtsschutz ist.

Wahrung der Menschenwürde in unserer Zeit erfordert eine Ausweitung des Blickwinkels in die angedeutete Richtung. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, dass es genügend Organisationen für jedes der genannten Themenfelder gibt, Naturschutzverbände, Gewerkschaften, Verbände der Wohlfahrtspflege und andere mehr. Ihr Betätigungsfeld reicht weit über den Schutz von Grundrechten hinaus, ist häufig interessengebunden und unspezifisch.

Es bleibt genügend Raum für eine an den Freiheits- und Teilhaberechten des Grundgesetzes orientierte Sicht, wie sie Bürgerrechtsorganisationen in qualifizierter Weise einbringen können. Speziell um den Schutz der Privatheit haben sie stets in vorderster Front gekämpft.

Ein Beispiel für nahe liegende Schutzforderungen bietet Art. 10 GG, der das Post- und Telefongeheimnis schützt. Das Telefongeheimnis wird schon durch die offizielle Telefonüberwachung durch strafrechtliche Ermittlungsverfahren bedroht, aber mehr noch durch fremde Geheimdienste. Darauf ist schon hingewiesen worden. Das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG wird damit zum aktuellen Schutzpflichtthema. Die Frage, ob die technischen Möglichkeiten eines Schutzes vor unbefugtem Abhören ausgeschöpft sind oder ob es praktikable und wirksame Verschlüsselungsmethoden für den Telefonverkehr gibt, ist noch nicht abschließend öffentlich erörtert worden. Immerhin hat die Da tenschutzbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen vor einiger Zeit eine Software zur Verschlüsselung von E-Mails verteilt und zugleich öffentlich davor gewarnt, dass diese ebenfalls dem Postgeheimnis unterliegende Kommunikation chronisch mitgelesen wird. Der Staat muss seine Bürger vor den Abhörpraktiken der ausländischen Geheimdienste schützen, keinesfalls darf er sie fördern, indem er die dafür erforderlichen technischen Einrichtungen auf unserem Territorium duldet.

Die erweiterte Sicht eröffnet neue Kooperationsmöglichkeiten. Die genannten Organisationen, insbesondere die Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände sind natürliche Verbündete im Kampf um die Bewahrung von menschenwürdigen Verhältnissen in unserem Land. Sie werden gehaltvolle Unterstützung von Bürgerrechtsvereinen nicht verschmähen, und Letztere können von einer Kooperation ebenfalls nur profitieren.

Der öffentliche Einfluss der Bürgerrechtsorganisationen wird wachsen, wenn sie ihren Blick weiten und in neuer Formation antreten. Ihre Interventionen werden wirksamer, wenn sie sich nicht mehr darauf beschränken, Sicherheitspakete der Regierungen zu kritisieren und die Erosion der Grundrechte zu beklagen, so wichtig und unentbehrlich eine solche Kritik auch ist. Eine offensive Strategie muss hinzukommen. Der Staat muss gefordert, um nicht zu sagen herausgefordert werden. Er hat die Pflicht, Menschenwürde und Freiheitsrechte aktiv zu schützen.