Coverbild Grundrechte-Report 2002
-->

Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Frank Ulrich Montgomery

Tödlicher Brechmitteleinsatz. Gewaltsame Vergabe ist nicht zu vertreten

Grundrechte-Report 2002, S. 79-84

Der Tod eines Kameruners in Hamburg nach einem gewaltsamen Brechmitteleinsatz wirft die grundsätzliche Frage nach der rechtlichen und medizinischen Zulässigkeit dieses Verfahrens auf.

 

Dem Beschuldigten wird ein Brechmittel zur Einnahme angeboten. Dieser Saft – in der Regel aus der mexikanischen Ipecacuanha- Wurzel gewonnen – ist pharmakologisch im Wesentlichen harmlos. Man kann ihn Kindern geben, die etwas «Falsches» gegessen haben. Nach der Einnahme löst der Saft schnell mehrere heftige Brechattacken aus. Verweigert der Beschuldigte jedoch die Einnahme, wird ihm das Mittel mit Gewalt zugeführt. Hierzu muss eine Sonde durch die Nase eingeführt und bis in den Magen geschoben werden. Ist der Beschuldigte nicht kooperativ, wird er von mehreren Polizisten gewaltsam fixiert.

 

Medizinisch bestehen die Gefahren der Verletzung der Speiseröhre (Perforation), der Fehlsondierung der Luftröhre und schließlich des Einatmens von Erbrochenem (Aspiration). Eine seltene Komplikation kann sich darüber hinaus aus der Fixierung des Beschuldigten ergeben. Manipulationen am Hals können bei einem sehr erregten Menschen zu einem reflektorischen Herzstillstand führen.

 

Ziel des Brechmitteleinsatzes ist die Beweissicherung, um vermutliche Drogendealer des Handelns mit Drogen einwandfrei zu überführen. Dabei geht es sowohl um die Tatsache des Handelns an sich wie auch um die Menge der Drogen. Hieraus erge ben sich Konsequenzen für das Strafmaß. Es ist der nachvollziehbare Anspruch des Staates, diese Differenzierung durch Beweissicherung zu betreiben. Die Bestrafung der Händler ist eine Methode zur Eindämmung des illegalen Handels.

 

Der Brechmitteleinsatz wird auf der Grundlage des § 81a der StPO von einem Richter oder Staatsanwalt angeordnet. Hiernach darf eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.

 

Für die Beurteilung des Verfahrens aus ärztlicher Sicht sind also drei Fragen von Bedeutung: 1. Ist kein Nachteil für die Gesundheit des Beschuldigten zu befürchten? 2. Wird der Eingriff von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen? 3. Ist das Ergebnis des Einsatzes für das Verfahren von Bedeutung?

 

Die dritte Frage ist aus ärztlicher Sicht am schwersten zu beantworten. Unstreitig ist, dass große Mengen Drogen, die nachgewiesen werden, das Strafmaß erhöhen – das rechtliche Verfahren bekommt ein anderes Gewicht. Andererseits kann aber der Umgang der Justiz mit den Beschuldigten in diesem Kontext nicht immer überzeugen. So war der in Hamburg zu Tode gekommene Kameruner der Hamburger Polizei angeblich als «Intensivdealer » bekannt. Fünfmal war er bereits ins Fahndungs netz der Polizei geraten und – ohne Brechmitteleinsatz – wegen Handelns mit Crack und Kokain angeklagt worden. Da er aber erst 18 oder 19 Jahre alt war, blieb ihm die Untersuchungshaft erspart. Stattdessen wurde er – versehen mit der Auflage, sich nicht mehr in Hamburg aufhalten zu dürfen – wie schon zuvor wieder in seine Asylbewerberunterkunft nach Thüringen geschickt. Dennoch tauchte er binnen kürzester Zeit wieder im Hamburger Drogenmilieu auf. Für den jungen Mann aus Kamerun war also offenbar der sanktionierende Charakter der gegen ihn verhängten Maßnahmen überhaupt nicht nachzuvollziehen. Begangenes Delikt und erkennbar gewordene «Strafe » standen für ihn in keinem rationalen Verhältnis.

 

Angesichts dieser Vorgeschichte bezweifle ich, dass das Ergebnis des Einsatzes für das Verfahren überhaupt von Bedeutung war und somit die von § 81a StPO vorausgesetzte Relevanz gegeben war.

 

Der Brechmitteleinsatz wurde im Institut für Rechtsmedizin von einem Arzt (einer Ärztin) durchgeführt. Schwer beurteilbar ist aber, ob dabei alles «nach den Regeln der ärztlichen Kuns»t abgelaufen ist. Zum Redaktionsschluss lag das endgültige Sektionsprotokoll noch nicht vor. Losgelöst vom Einzelfall muss aber dennoch die Frage erlaubt sein, ob das Verfahren an sich überhaupt nach den Regeln der ärztlichen Kunst ablaufen kann. Gewaltanwendung in der Medizin ist ausschließlich mit Einwilligung des Patienten möglich. Bei eingeschränkter Urteilsfähigkeit greift die Unterstellung, man handele nur zu seinem Besten – dies aber bezieht sich ausschließlich auf das Wohl des Kranken, nicht auf den Anspruch des Staates auf Beweissicherung. Immer aber muss der Arzt die Grundsätze beachten: «Nihil nocere» (Niemals schaden) und «Salus aegroti suprema lex» (Die Gesundheit des Kranken ist oberstes Gebot). Das ist wohl auch gemeint, wenn der § 81a StPO explizit auf die Erbringung der Ein griffe von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst abstellt.

 

Nun wird eingewendet, die Gewaltanwendung bei der Vergabe des Brechmittels sei nötig, um die Gesundheit des Beschuldigten zu retten. Schließlich bestünde ja die Gefahr, dass die in der Tat oft abenteuerlich verpackten «Drogenkügelchen » ihren Inhalt im Magen-Darm-Trakt des Beschuldigten von sich gäben und ihn gefährdeten. Tatsächlich aber gibt es in der wissenschaftlichen Literatur keine Beweise, dass das gewollte Verschlucken von kleineren Drogenmengen beim Dealen zu gefährlichen Komplikationen führt. Unbestritten ist, dass Drogenkuriere, so genannte «body packer», schon in größerer Zahl zu Tode gekommen sind. Diese haben aber ein Vielfaches der Menge Rauschgift in sich, oft hoch konzentriert und in vielen, deutlich größeren Einzelportionen verpackt. Bis zu 60 Kondome mit fast zwei Kilogramm Kokain sind beschrieben. Diese Situation ist daher mit der bei Kleindealern nicht vergleichbar.

 

Und schließlich darf ein ärztliches Argument nicht außer Acht gelassen werden: Handelt der Arzt nicht zur Beweissicherung für den Staatsanwalt, sondern zur Lebensrettung für den Beschuldigten, entsteht ein klassisches Patient-Arzt-Verhältnis. Dieses aber unterliegt dann der ärztlichen Schweigepflicht nach § 203 StGB und § 9 (Muster-)Berufsordnung. Zusätzlich hat der Arzt ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Ginge es also dem ausführenden Arzt wirklich um Lebensrettung, so müsste er sich selbst die Frage stellen: Warum schluckt der Beschuldigte angesichts der Bedrohung nicht freiwillig das Brechmittel, obwohl er doch in all den Fällen, wo er nicht zum Brechmitteleinsatz musste, durch selbst herbeigeführtes Erbrechen seine Handelsware wieder zutage förderte? Der Grund liegt – klar erkennbar – im Ziel des Verfahrens: Verhaftung und Strafe. In der Abwägung zwischen Lebensrettung auf der einen Seite, Verhaftung und Strafe auf der anderen aber muss der Arzt sich klar für die Lebensrettung entscheiden. Das ist sein ärztlicher Auftrag.

 

Es böte sich also an, wenn das Leben des Beschuldigten in Gefahr ist, die Polizisten wegzuschicken, dem Beschuldigten das Brechmittel in die Hand zu geben, ihm den Weg zur Toilette zu weisen mit der Aufforderung, sich in die Toilette zu erbrechen und das Erbrochene fortzuspülen. Dann wäre zwar die Beweissicherung misslungen, das angeblich gefährdete Leben aber gerettet. Aus ärztlicher Sicht lässt sich die Frage nach der Befürchtung von Nachteilen für die Gesundheit des Beschuldigten bei einer gewaltsamen Verabreichung des Brechmittels eindeutig mit «Ja» beantworten. Es bedurfte nicht erst eines Beweises, schon Monate vor dem tödlichen Zwischenfall hat vielmehr die Kammerversammlung der Hamburger Ärztekammer auf meinen Antrag hin den folgenden Beschluss gefasst:

 

1. Die Ärztekammer Hamburg erklärt die Gabe eines Brechmittels nur unter ärztlicher Aufsicht und nur bei qualifizierter Notfallbereitschaft für vereinbar mit dem ärztlichen Berufsethos. 2. Unter ärztlichen Gesichtspunkten ist die Vergabe von Brechmitteln gegen den Willen des Betroffenen nicht zu vertreten. Die ÄKHH wendet sich grundsätzlich im Zusammenhang ärztlicher Tätigkeiten gegen Gewaltmaßnahmen. 3. Beweissicherungsmaßnahmen sind staatliche Maßnahmen. An der Gewaltanwendung beteiligen sich Ärzte nicht. 4. Kein Arzt kann zur Teilnahme an diesen Maßnahmen gezwungen werden. Auf der Basis dieses Beschlusses scheint die Argumentation zulässig, dass gewaltsame Brechmitteleinsätze nach § 81a StPO gegen die Berufsordnung verstoßen. Mit solchen theoretischen Überlegungen ist aber niemandem gedient – uns Ärzten am wenigsten. Blickt man nur auf die Konkurrenz zwischen einem von staatlichen Instanzen angewendeten Paragraphen der StPO und einer Regel der innerärztlichen Berufsordnung, so verliert man das Entwürdigende, Unmenschliche, ja Lebensgefährliche des Verfahrens aus den Augen.

 

Ich sehe es daher als meine ärztliche Aufgabe an, der Politik klar zu machen, dass sie mit der Brechmittelvergabe den falschen Weg geht. § 81a StPO deckt das gewählte Verfahren nicht. Weder ist das Ergebnis von überzeugender Bedeutung, noch lassen sich Gesundheitsrisiken wirklich ausschließen.