Coverbild Grundrechte-Report 2002
-->

Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Sonja Vack

Strafe nach der Strafe?

Grundrechte-Report 2002, S. 188-192

Im März 2001 wurde ein Mann aus dem hessischen Strafvollzug entlassen, der eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren bis zum letzten Tag verbüßt hatte. Dies veranlasste den hessischen Justizminister Christian Wagner zu der Feststellung: «Wir sind nach Ablauf der Strafe gezwungen, die Täter zu entlassen!» Eigentlich selbstverständlich: Auf die Verbüßung der Haft folgt die Entlassung. Doch die Fraktionen der CDU und FDP im Hessischen Landtag wollten das in diesem Fall nicht akzeptieren und brachten folgenden Antrag ein:

 

«Der Landtag wolle beschließen: 1. Der Landtag nimmt mit Bestürzung zur Kenntnis, dass ein vierfacher Mörder am 13. März 2001 aus der Strafhaft entlassen wurde. 2. Der Landtag ist empört über die Haltung der A-Länder im Bundesrat, die einem Antrag des Landes Hessen zur Ein führung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht zugestimmt haben. 3. Der Landtag fordert die Landesregierung auf, die nachträgliche Sicherungsverwahrung zum Schutz der hessischen Bevölkerung nun landesrechtlich zu regeln. Begründung: Der Schutz der Bürger vor gefährlichen Straftätern, insbesondere vor Sexual- und Gewaltstraftätern, erweist sich nach dem bestehenden Recht als lückenhaft . . . Der Gesetzgeber muss jedoch diesem haltlosen Zustand entgegenwirken . . .»

 

Deutlich zu erkennen ist, dass diese Initiative in einem nach den aktuellen Sexualstraftaten in Zusammenhang mit Entführung und Mord von Kindern aufgehetzten Klima entstand. Sie steht in engem Zusammenhang mit der drastisch gestiegenen Angst vor weiteren solchen Straftaten. Dieser Angst soll damit begegnet werden, angebliche strafrechtliche Lücken umgehend zu füllen.

 

Dabei übersehen diejenigen, die dazu auffordern, allerdings absichtlich oder unabsichtlich, dass gar keine Lücke besteht. Zunächst einmal gibt es die Möglichkeit, mit dem Urteil Sicherungsverwahrung anzuordnen. Wenn das Gericht feststellt, dass es sich bei dem Verurteilten um einen «gefährlichen Täter» mit «Hang zu erheblichen Straftaten» handelt, ordnet es Sicherungsverwahrung an. Dann wird der Straftäter nach Verbüßung der Strafe für längstens zehn weitere Jahre im Strafvollzug untergebracht. Alle zwei Jahre muss überprüft werden, ob die Voraussetzungen noch vorliegen. Von dieser Möglichkeit wird von den Gerichten zunehmend Gebrauch gemacht. Wenn bei einem Straftäter keine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, spricht das dafür, dass das Gericht bei der Prüfung der Voraussetzungen zu der Erkenntnis kam, dass die durch den «Hang des Täters zu erheblichen Straftaten» bestehende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit nicht vorliegt. Des Weiteren besteht bei psychisch kranken Straftätern die Möglichkeit, diese nach Verbüßung der Strafe psychiatrisch unterzubringen. Und bei allen anderen zu Entlassenden besteht die Möglichkeit, sie unter Führungsaufsicht zu stellen und entsprechend zu überwachen.

 

Dessen ungeachtet hat Baden-Württemberg – im Unterschied zu Hessen – ein Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung bereits verabschiedet. Das Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter wurde vom Baden- Württembergischen Landtag am 20. Februar 2001 beschlossen. Zuvor hatte es Initiativen verschiedener Bundesländer, darunter auch Baden-Württembergs, gegeben, die angestrebte nachträgliche Sicherungsverwahrung durch ein Bundesgesetz zu regeln, da alle Länder bis vor kurzem davon ausgegangen waren, dass für eine solche Regelung die Gesetzgebungskompetenz beim Bund liegt. Der Rechtsausschuss des Bundesrates hatte jedoch schwer wiegende verfassungsrechtliche Bedenken geäußert – ohne diese im Einzelnen auszuführen – und empfohlen, den Entwurf nicht einzubringen. Zu einer bundesgesetzlichen Regelung kam es deshalb nicht. Baden-Württemberg hat sich dann zu einem Alleingang entschlossen und trotz vorher festgestellter Gesetzgebungskompetenz des Bundes ein Landesgesetz erlassen. Man erklärte dafür kurzerhand das Straftäter-Unterbringungsgesetz zu einem Polizeigesetz. Denn im Unterschied zu Regelungen des Strafrechts sind polizeirechtliche Regelungen Ländersache.

 

Das Gesetz sieht vor, dass ein Straftäter, der eine zeitige Freiheitsstrafe verbüßt, nach Verbüßung der vollen Strafe weiterhin in einer Justizvollzugsanstalt untergebracht bleiben kann, wenn er auf Grund von Tatsachen, die erst nach der Verurteilung im Vollzug eingetreten sind, als weiterhin gefährlich gilt. Insbesondere soll sich die Gefährlichkeit ergeben, wenn der Insasse als nicht therapierbar gilt, etwa weil er eine Psycho- oder Sozialtherapie ablehnt oder abbricht.

 

Abgesehen davon, dass das baden-württembergische Straftäter- Unterbringungsgesetz schon auf Grund der fehlenden Gesetzgebungskompetenz der Länder verfassungswidrig ist, sind die getroffenen Regelungen vor allem inhaltlich bedenklich und verfehlt. Zwar soll die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach dem Text des Gesetzes nur angeordnet werden, wenn ein Straftäter erst nach der Verurteilung (im Vollzug) als gefährlich eingestuft wird. Die Gefährlichkeit soll sich aus der Vollzugsprognose ergeben. Allerdings ist eine Bewertung des Verhaltens im Vollzug nicht losgelöst von der Straftat möglich, für die der Betroffene verurteilt wurde. Die Frage, wie eine fehlende Mitwirkung im Vollzug (zum Beispiel durch Abbruch einer Sozialtherapie) bewertet wird, wird völlig unterschiedlich beantwortet werden, je nachdem, ob ein Straftäter wegen eines Sexualdeliktes oder wegen Eigentumsdelikten verurteilt wurde. Die Straftat, die zur Verurteilung geführt hat, ist damit auch Grundlage für die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung. Und dies bedeutet, dass tatsächlich für eine Straftat nacheinander zwei gerichtliche Entscheidungen aufeinander folgenden Freiheitsentzug verfügen. Darin liegt sehr wohl eine Doppelbestrafung für eine Tat, bei der der Täter die volle verhängte Strafe bereits verbüßt hat, bevor anschließend nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet und wiederum in einer Justizvollzugsanstalt vollzogen wird. Eine weitere Straftat wurde nicht begangen, lediglich eine Gefährlichkeit festgestellt bzw. unterstellt. An diesem Punkt setzt weitere Kritik an dem Gesetz an: Denn entscheidend für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung oder Haftentlassung zum Strafende ist die Gefährlichkeitsprognose, mit der begründet werden muss, dass zum Entlassungszeitpunkt eine erhebliche gegenwärtige Gefahr von dem Betroffenen ausgeht. Eine solche Prognose ist – wie aus anderen Gebieten des Strafrechts und Strafvollzuges bekannt – nicht leistbar. Die Anhaltspunkte, die das Gesetz selbst für die Prognose gibt, wie Ablehnung oder Abbruch einer Sozialtherapie, taugen als Indizien nicht. Für die Ablehnung oder den Abbruch einer Therapie kann es viele, auch positiv zu deutende, Gründe geben. Ein direkter Zusammenhang zwischen Therapieabbruch und Gefährlichkeit ist empirisch in keiner Weise abgesichert. Ein solches Gesetz kann dazu führen, dass Straftäter im Vollzug noch stärker taktieren (müssen) und widerspruchslos alle ihnen angetragenen Therapien und sonstigen «Behandlungen » über sich ergehen lassen. Dann liegt keine Ablehnung und kein Abbruch vor, aber mit Resozialisierung hat dies auch nichts zu tun. Und eine Therapie unter Zwang ist ein Widerspruch in sich.

 

Statt von Aufhebung des baden-württembergischen Straftäter- Unterbringungsgesetzes lesen und hören wir in den Medien jedoch von weiteren Vorstößen einzelner Bundesländer, die ebenso wie Baden-Württemberg Landesgesetze zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung beabsichtigen. Solche Gesetze entbehren jeder rechtlichen Grundlage. Sie dürfen nicht erlassen werden, und das baden-württembergische ist schnellstens wieder aufzuheben. Zu entlassenden Straftätern, die auf Grund dessen in Haft bleiben, wäre das Beschreiten des Rechtsweges dringend zu empfehlen.