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Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Ulrike Donat

Sonderrechtszone Gorleben: Schlafen verboten

Grundrechte-Report 2002, S. 123-129

Wie bei den vorangegangenen Castor-Transporten erließ die Bezirksregierung Lüneburg auch im März 2001 Versammlungsverbote per Allgemeinverfügung (10. März 2001). Diese galten schon am Wochenende vor dem erwarteten Transport, nach dem Wortlaut aber «nur » 50 Meter rechts und links der Transportstrecke sowie jeweils 500 Meter um den Verladekran in Dannenberg und das Zwischenlager in Gorleben. Zuvor war dem Landkreis Lüchow-Dannenberg die Kompetenz für das Versammlungsrecht entzogen worden.

 

Anders als in den Vorjahren gab es eine Zeitzone von drei Tagen (vom 24. März bis 26. März 2001), in denen lediglich unangemeldete Versammlungen generell verboten waren, ab dem 27. März 2001 galt dann das Totalverbot ohne Ausnahme. Die «Gefahrenprognose » für diese Sonderzone stützte sich auf die Gleichsetzung jeglicher Form von Protest gegen den Castor. Das Verbot galt für Mahnwachen, «Schienensägen » und Gruppen mit dem Motto «Wir stellen uns quer».

 

Versammlungsverbote

 

Anders als in den Vorjahren gelang es diesmal, im Eilverfahren das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Gegenstand war zunächst die «Stunkparade » von ca. 500 erwarteten Treckern. Diesem karnevalsartigen Umzug sollte das Mitführen von Personen auf landwirtschaftlichen Maschinen ebenso untersagt werden wie die Möglichkeit, dass sich neben den in der Anmeldung angekündigten Bauern weitere Teilnehmer oder Zuschauer mit Pkws anschließen. Für die Teilstrecke entlang des Deichs bei Laase wurde ein Streckenverbot ausgesprochen. Die Bezirksregierung befürchtete dort Treckerblockaden.

 

Im Verfahrensverlauf dementierten die Polizeibehörden, dass eine Beschränkung der Teilnahme lediglich auf die angemeldeten Teilnehmer beabsichtigt sei (so lauteten aber die ursprünglichen Auflagen). Daraufhin konnte die «Stunkparade» wie beabsichtigt mit lediglich teilweise geänderter Route stattfinden. So blieb die Verfassungsbeschwerde formal erfolglos. Die Bezirksregierung hatte im Verfahrensverlauf ihre Auflagen reduziert. Das Gericht bestätigte die Routenänderung und sah sich im Übrigen außerstande, die Gefahrenprognose im Eilverfahren zu überprüfen.

 

Eilanträge der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg und der «Grünen Liste Wendland» gegen die Allgemeinverfügung und das darin enthaltene Totalverbot von Demonstrationen entlang der Strecke beim zuständigen Gericht blieben ebenso ohne Erfolg wie der Versuch der Fraktion von Bündnis 90/ Die Grünen im Niedersächsischen Landtag, eine öffentliche Fraktionssitzung am Rande der Zone des Versammlungsverbots durchzuführen. Auch hier wurde auf die eingeschränkte Prüfungsmöglichkeit im Eilrechtsverfahren Bezug genommen und im Übrigen das Verbot mit dem Argument «Wurfzone» begründet.

 

Das vom BVerfG bestätigte Versammlungsverbot für einen «eng umgrenzten Transportkorridor» wurde von der Polizei vor Ort auf den Abstand von fünf Kilometern von der Transportstrecke ausgeweitet. Anders als in den Vorjahren waren Campstandorte nach dem Versammlungsrecht mit eigenem Veranstaltungsprogramm angemeldet worden. Die Bestätigung wurde hinausgezögert; zuständig dafür war der Landkreis Lüneburg. Am Donnerstag vor dem erwarteten Transport begannen die Aufbauarbeiten für die Camps. Jeder Ansatz wurde von der Polizei verhindert. Lastwagen mit Versammlungszelten, Küchenwagen, Personen mit Campingmaterial, selbst Passanten wurden aufgehalten, teilweise eingekesselt. Eilanträge dagegen bei Gericht von zwei Campanmeldern führten zwar dazu, dass der Polizei ein Einschreiten ohne Versammlungsverbot untersagt wurde. Zeitgleich ergingen dann aber Verbotsverfügungen. Die Gerichtsentscheidungen und die Verbotsverfügungen der Bezirksregierung wurden zeitgleich übermittelt. Ein Eilverfahren gegen die Campverbote vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg blieb dann erfolglos. Das Gericht folgte den Angaben der Polizei, die befürchtete, in den Camps wollten sich «Schienensäger» verstecken. Ähnlich erging es den Versuchen von «X-tausendmal quer», Versammlungen und Campplätze anzumelden. Die Polizei versuchte, jede Versammlung im Ansatz zu verhindern und jegliches Zelten zu unterbinden. Sobald auf der Straße Personen mit Rucksäcken, Fahrzeuge mit mehreren Insassen oder Campzubehör ausgemacht wurden, gab es massenhafte Personenund Fahrzeugkontrollen sowie Beschlagnahmen von Campzubehör.

 

Damit begann die Odyssee der anreisenden Demonstranten. Mehrere tausend waren mittlerweile nach der Demonstration in Lüneburg am Samstag in den Landkreis gekommen. Jeder Versuch, irgendwo ein Zelt aufzuschlagen, wurde im Ansatz verhindert. Teilweise wurden Mahnwachen gestattet, aber das Verbot, Zelte aufzuschlagen, wurde konsequent umgesetzt.

 

Bei der Bevölkerung vor Ort führte dies angesichts niedriger Temperaturen, eisiger Winde, gelegentlicher Schnee- und Graupelschauer zu Empörung. Entlang der Transportstrecken vom Landkreis Lüneburg bis hin nach Gartow öffneten sich darauf hin für Angereiste – unter Mitwirkung des Landrates Lüchow- Dannenbergs und aller Kirchengemeinden entlang der Strecke – Schulen, Turnhallen, Gemeindehäuser, Kirchen. Letztendlich schliefen viele Demonstranten komfortabler als in einem Camp. Der Gesamteinsatzleiter der Polizei, Reime, hatte offensiv das Konzept vertreten, den «Protestlern » den «Mindestkomfort vor Ort» unmöglich zu machen. Sie sollten auf diese Weise zermürbt werden. Die Öffnung der Kirchen habe sich nun für die Polizei «ausgesprochen zermürbend» ausgewirkt.

 

Öffneten Anwohner ihre Häuser, Ferienwohnungen und Scheunen, dann kamen Polizisten und erklärten: Bei Beherbergung von mehr als zwei oder drei Personen hätten die Eigentümer mit einer Hausdurchsuchung zu rechnen. Gastrecht und Eigentümergebrauch wurden außer Kraft gesetzt. Die Drohung wirkte.

 

Bekannt wurde eine Hausdurchsuchung bei einer 78-jährigen Anwohnerin, die ihre Ferienwohnung einer Gruppe von Castorgegnern überlassen hatte. Anlass war die Vermutung, mit der Satellitenschüssel würde der Polizeifunk abgehört! Belastende Gegenstände wurden nicht gefunden.

 

Überwachung der Bevölkerung

 

Es gab auch das Konzept der «Konfliktmanager » der Polizei. Sie sollten die Maßnahmen der Polizei verständlich machen. Da sie aber keinen Einfluss auf das Vorgehen der Polizei hatten, wurden sie meist angefeindet. Wochen vor dem Transport waren sie angerückt, dann kamen normale Polizeikräfte hinzu. Die Schienenstrecke von Lüneburg bis Dannenberg und die Straßenstrecke vom Verladebahnhof Dannenberg bis zum Zwischenlager wurden durch Polizeifahrzeuge im Abstand von hundert Metern überwacht. Nachts kreisten Hubschrauber und leuchteten die an die Straße grenzenden Wälder mit Suchscheinwerfern ab. Auch Wärmekameras wurden eingesetzt. Willkürlich wurden Fahrzeuge angehalten und kontrolliert. Jeder Trecker, der sich tags oder nachts in der Nähe der Transportstrecke bewegte, wurde von aufgeregten Polizeifunkmeldungen begleitet, häufig (oft fünfmal) auf seinem Weg vom Hof zum Feld kontrolliert. Zuletzt wurden alle «verdächtigen » Traktoren in der Nähe der Strecke stillgelegt – diesmal durch Herausdrehen der Ventile, aber ohne Beleg für eine ordnungsgemäße «Beschlagnahme».

 

Anreisende Personen wurden umfangreichen Personen- und Fahrzeugkontrollen unterzogen. Es kam zu massenhaften Platzverweisen, auch von Leuten, die an angemeldeten Mahnwachen teilnehmen wollten. Etwa 300 Leute wurden auf dem Weg zu einer Mahnwache – außerhalb der Verbotszone der Allgemeinverfügung! – eingekesselt und in Gewahrsam genommen. Platzverweise wurden überall erteilt. Viele vermochten nicht zu erkennen, warum dies geschah und für welchen Bereich der Verweis gelten solle: für den heimatlichen Landkreis, für die eigene Gemeinde und selbst für das eigene Grundstück?

 

Polizeigewahrsam

 

Bei den Protesten entlang der Schiene (Sitzblockaden auf dem Castor-Gleis) kam es zu Massengewahrsamnahmen. Gezählt wurden rund 1400 polizeiliche Gewahrsamnahmen. Gitterkäfige wurden nicht eingesetzt. Dagegen hatte es im Vorfeld Pro teste gegeben. Die bereits angelieferten Käfige wurden abtransportiert. Erstmals wurde gezielt ein Organisator von «X-tausendmal quer» präventiv von einem Sondertrupp herausgegriffen und in den polizeilich angeordneten Gewahrsam genommen – «bis der Castor-Transport im Zwischenlager angekommen ist».

 

Teilweise wurden Betroffene per Zug fast 200 Kilometer weit entfernt nach Soltau oder Bad Segeberg gebracht und dort in Gewahrsam genommen. Dafür gibt es keine rechtliche Grundlage. 800 bis 1000 Personen wurden in «Gefangenensammelstellen » gebracht, andere bis zu 20 Stunden in Gefangenenbussen festgehalten. Die in § 19 NGefAG vorgeschriebene Entscheidung eines Richters wurde durch fehlende Aktenvorlage häufig verzögert. In der Regel ordneten die Richter die Freilassung an.

 

Neu ist die Konstruktion von Übernachtungsgebühren (in Höhe von 138 DM). Diesen Betrag sollen rund 600 in Gewahrsam Genommene jetzt im Nachhinein zahlen – zum Teil für stundenlangen Aufenthalt im Gefangenentransporter. Widersprüche werden massenhaft erhoben. Eine besondere Qualität gewinnen diese polizeilichen Maßnahmen wegen ihrer Massenhaftigkeit und wegen der dabei aufgenommenen Daten: Seit Januar 2001 führen bereits Platzverweise und Ingewahrsamnahmen im Zusammenhang mit Nukleartransporten zur Eingabe in die BKA-Datei «Gewalttäter links». Die Betroffenen erfahren davon nichts und haben keine Möglichkeit einer Überprüfung. Was dies zur Folge haben kann, zeigen die Ausreisesperren und Verhaftungen aus Anlass der Demonstrationen in Genua.

 

«Castor-Land auf dem Weg in eine grundrechtsfreie Zone?» – Dieser Satz, der von Beobachtern des letzten Castor-Transports geäußert wurde, markiert eine Gefahr. Die Polizei steht vor der Aufgabe, koste es, was es wolle, die Castor-Behälter ins Zwischenlager Gorleben zu bringen. Sie meint, durch massive Einschüchterung ihr Ziel durchsetzen zu können. Sie sieht nicht, dass sie damit dazu beiträgt, die Grenze zwischen symbolischen Aktionen (auch wenn durch diesen zivilen Ungehorsam Rechtsnormen verletzt werden) und offener Gewaltanwendung einzuebnen. Versammlungsfreiheit, der einfache Gebrauch des Eigentums der Anwohner, die Freiheit von Überwachung und nächtlichem Hubschrauberlärm – nichts zählt mehr in diesen Tagen. Mit der Empörung darüber wächst Zivilcourage.

 

Den Behörden in Lüneburg und Hannover ist der «optische Eindruck» bei Gerichten und in der Republik nicht völlig gleichgültig. Aber zum einen stellt sich ein Gewöhnungseffekt ein, zum anderen wird vor Ort anders gehandelt, als dies in den Einsatzplänen vorgesehen ist. Das trägt dazu bei, dass ein Sonderrechtsbereich Gorleben entsteht.

 

Deshalb ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit weiter verfolgt, was in Gorleben passiert. Nach der geltenden Rechtslage ist Gorleben nur ein «Zwischenlager ». Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung des Landkreises wehrt sich weiter dagegen, dass durch massenhafte Lagerung von Castor-Behältern Fakten geschaffen werden, die eine Endlagerung präjudizieren.