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Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Handys als Peilsender. Grundrechtseinschränkung durch Richterrecht ermöglicht Bewegungsprofile

Grundrechte-Report 2002, S. 150-154

«Überrascht hätte, wenn höchstrichterlich ein (erstes) Mal (an-)erkannt worden wäre, dass nicht alles, was technisch möglich ist, um Beschuldigte heimlich auszuforschen, auch von (irgend-)einer strafprozessualen Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist» (Bernsmann 2002). Mit dieser resignierenden Feststellung kommentiert der Rechtswissenschaftler Klaus Bernsmann den Beschluss des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof (BGH) vom 21. Februar 2001 (2 BGs 42/01). Mit dem Beschluss bestimmt der BGH, dass die Betreiber öffentlicher Telekommunikationsnetze im Falle einer ergangenen Überwachungsanordnung verpflichtet sind, den Sicherheitsbehörden den Standort von Mobiltelefonen (Handys) auch dann mitzuteilen, wenn mit ihnen nicht telefoniert wird. Damit ist höchstrichterlich entschieden, dass im Rahmen einer nach den § § 100a und b der Strafprozessordnung (StPO) ergangenen Richtergenehmigung zur Überwachung der Telekommunikation den Behörden neben dem Abhören und Aufzeichnen von Telefonaten auch die Standortverfolgung eines nicht telefonierenden, eingeschalteten Mobiltelefons, das heißt die Erstellung des Bewegungsprofils seines Besitzers erlaubt ist. Technisch ist das möglich, weil Mobiltelefone im eingeschalteten Zustand (Stand-by) Signale aussenden, die von nächstliegenden Funkantennen aufgefangen werden: Eingeschaltete Handys geben so fortlaufend ihren (ungefähren) Standort, das heißt die «Funkzelle » bekannt, in der sie sich befinden.

 

Hintergrund des BGH-Beschlusses war eine im Januar 2001 ebenfalls vom BGH-Ermittlungsrichter genehmigte Überwachung des Mobiltelefonanschlusses einer Person, die einer Katalogstraftat nach § 100a StPO verdächtigt wurde. Wie vom Generalbundesanwalt beantragt, hatte der BGH-Ermittlungsrichter auch die Genehmigung erteilt, die Positionsdaten seines nicht telefonierenden Handys zu erfassen. Damit war die Netzbetreiberin gemäß § 100b StPO auch zur Übermittlung der Bewegungsdaten an die Behörden verpflichtet.

 

Gegen diese Verpflichtung hatte sich die Netzbetreiberin mangels anderer Rechtsmittel mit einer als «Gegenvorstellung» bezeichneten Eingabe an den BGH gewandt. Darin machte sie unter anderem geltend, dass die Mitteilung der Bewegungsdaten eines überwachten Handys, sofern sie nicht beim Telefonieren anfallen, von dem einschlägigen § 100a StPO nicht erfasst sei, weil sie nicht – wie diese Rechtsnorm verlange – im Zusammenhang mit einem «Telekommunikationsvorgang» entstünden. Tatsächlich spricht der § 100a StPO davon, dass (nur) «die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation» des Verdächtigen angeordnet werden darf.

 

Mit dem Bezug auf den Telekommunikationsbegriff des § 100a StPO wandte sich die Netzbetreiberin insofern nur mittelbar gegen ihre Datenübermittlungspflicht, vielmehr aber gegen die vom BGH genehmigte Überwachungsmaßnahme als solche. Wäre also der Ermittlungsrichter der Rechtsauffassung der Netzbetreiberin gefolgt, dann hätte er die von ihm selbst erteilte Genehmigung zur Überwachung der Telekommunikation des Verdächtigen (zumindest teilweise) als rechtswidrig qualifizieren müssen. Das hat er nicht getan: Die Gegenvorstellung der Netzbetreiberin wurde als unbegründet verworfen.

 

Zur Begründung des ablehnenden Beschlusses war der BGHErmittlungsrichter genötigt, den im § 100a StPO enthaltenen Begriff der «Telekommunikation» so auszulegen, dass mit ihm auch die Positionsmeldungen des nicht telefonierenden Mobiltelefons erfasst sind. Dazu bediente er sich einer eigenwilligen Argumentation. Sie beginnt mit der zutreffenden Feststellung, dass die Auslegung gesetzlicher Ermächtigungen zum Eingriff in das durch Art. 10 GG geschützte Fernmeldegeheimnis – hier also die § § 100a und b StPO und besonders der Begriff der Telekommunikation – in erster Linie an diesem Grundrecht auszurichten sei. Dieser auch vom Bundesverfassungsgericht zur Verstärkung des Grundrechtsschutzes oft wiederholte Grundsatz, wonach grundrechtseinschränkende Normen «im Lichte des betroffenen Grundrechts», also restriktiv auszulegen sind, verkehrt sich in der Logik des BGH-Ermittlungsrichters jedoch in sein Gegenteil:

 

Der Schutzbereich des Grundrechts des Fernmeldegeheimnisses sei wegen der technischen Entwicklung offen und dynamisch. So sei es unstreitig, dass das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses über den Kommunikationsinhalt hinaus heute ebenso die Kommunikationsumstände umfasse. Zu ihnen gehöre besonders, ob, wann und wie oft zwischen welchen Personen oder Fernmeldeanschlüssen Fernmeldeverkehr stattgefunden habe oder versucht worden sei. Zu ihnen gehörten aber auch die Verbindungsdaten eines Kommunikationsvorganges, wie eben auch die technisch bedingten Positionsmeldungen nicht telefonierender Handys, die somit in den Schutzbereich des Art. 10 GG fallen.

 

Ab hier nun erhält die bis dahin durchaus grundrechtsfreundlich erscheinende Argumentation des Ermittlungsrichters ihre entscheidende Wende: Weil sich wegen der Entwicklungsdynamik der Telekommunikation im Interesse eines nachhaltigen Grundrechtsschutzes der Schutzbereich des Art. 10 GG ausweite, könne auch einer entsprechend erweiterten Ausle gung der Befugnis zum Eingriff in diesen Schutzbereich nichts entgegenstehen. Also sei es auch von der Eingriffsermächtigung des § 100a StPO gedeckt, wenn die Strafverfolgung auf die Positionsmeldungen von Handys im Stand-by-Modus zurückgreife.

 

Als wäre es nicht (alleinige) Sache des Gesetzgebers, anhand einer Eingriffsnorm zu bestimmen, unter welchen Umständen in welches Segment eines Grundrechtsschutzbereiches wie tief eingegriffen werden darf, ist für den Ermittlungsrichter der mögliche Eingriffsbereich einer Ermächtigungsnorm nicht aus dieser Norm selbst, sondern aus dem vom Gesetzgeber in der Tat unabhängigen Schutzbereich des betroffenen Grundrechts zu erschließen. Statt also anerkannte Auslegungsmethoden zur Ermittlung des (äußerst) möglichen Bedeutungsumfanges des Telekommunikationsbegriffs im § 100a StPO zu nutzen, was aber mit ziemlicher Sicherheit zu einer Anerkennung der Rechtsauffassung der Netzbetreiberin geführt hätte (siehe Gercke 2002), bedient sich der BGH-Ermittlungsrichter einer Auslegungslogik, die auf eine «eklatante Verkennung des Zusammenhangs von Grundrecht und Eingriffsermächtigung» (Bernsmann/ Jansen 1999) hindeutet. Eine Logik allerdings, die für den Ermittlungsrichter den Vorzug hat, etwa die Frage, ob mit der Erstellung kompletter Bewegungsprofile nicht oder viel weniger das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG, sondern allein oder viel mehr das darüber hinausreichende allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1, 2 Abs. 1 GG), besonders das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen ist, überhaupt nicht untersuchen zu müssen. Und das wiederum erspart ihm die wahrscheinliche Feststellung, dass der auf Art. 10 GG zielende § 100a StPO selbstredend nicht als Ermächtigungsnorm für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gedacht war, noch als solche herangezogen werden kann.

 

Kurzum: Von einer zunehmenden Reichweite des Grundrechtsschutzes auf eine erweiterte Befugnis zum Eingriff in das Grundrecht zu schließen, stellt den Grundsatz, Eingriffsermächtigungen «im Lichte des betroffenen Grundrechts», also grundrechtsschonend auszulegen, auf den Kopf. In der Tendenz führt diese Logik den Grundrechtsschutz ad absurdum. Sie verkennt die primäre Grundrechtsfunktion: die Bürgerinnen und Bürger vor staatlichen Grundrechtseingriffen zu schützen.

 

Der Richterspruch ist in der Welt. Nun muss davon ausgegangen werden, dass mit der maßlos steigenden Zahl von Telefonabhörmaßnahmen Jahr für Jahr auch Tausende Mobiltelefone nicht nur abgehört, sondern als (untergeschobene) Peilsender zur Erstellung kompletter Bewegungsprofile ihrer Besitzerinnen und Besitzer verwendet werden. Die hier kritisierte, für diese schwer wiegenden Grundrechtseingriffe allein heranzuziehende richterrechtliche Ermächtigung ist fragwürdig. Zumindest kann auch verständigen Bürgerinnen und Bürgern nicht abverlangt werden, den Begriff der Telekommunikation des § 100a StPO so auszulegen, wie es der BGH-Ermittlungsrichter in seinem Beschluss vom 21. Februar 2001 für angemessen befunden hat.

 

Die Mehrheit des Deutschen Bundestages, vor allem aber die Bundesregierung scheint sich an dieser eklatanten Rechtsunklarheit nicht zu stören. Anlässlich der jüngsten Änderung der StPO wäre für eine Klarstellung gute Gelegenheit gewesen. Vielleicht hat es der Bundesregierung und ihrem Innenminister aber auch nur nicht gepasst, in der von der Parlamentsmehrheit gefeierten Orgie der sicherheitspolitischen Aufrüstung auch grundrechtlich bedenklichere Töne zu Gehör kommen zu lassen.

 

Literatur

 

Bernsmann, K./ Jansen, K.: Anmerkungen zum Beschluss des LG Aachen (24. 11. 98- 64 Qs 78/ 98) in Strafverteidiger 11/1999.

Bernsmann, K.: Anmerkung zu BGH, Ermittlungsrichter, Beschluss vom 21. 02. 01 (2 BGs 42/2001) demnächst in Neue Zeitschrift für Strafrecht 2002.

Gercke, B.: Bewegungsprofile anhand von Mobilfunkdaten (demnächst bei Duncker & Humblot, Berlin)