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Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Karl Kopp

Die Festung hält. Europäische Asylpolitik: Wenig Chancen für gute Ansätze

Grundrechte-Report 2002, S. 202-207

Die Europäische Union befindet sich mit In-Kraft-Treten des Amsterdamer Vertrages im Mai 1999 auf dem Weg zu einem gemeinsamen Asylrecht. In der ersten Phase der Vergemein schaftung sollen bis Mai 2004 in allen zentralen Bereichen des Asylrechts Mindeststandards beschlossen werden. Die mit Amsterdam eingeleitete Entwicklung wird in den nächsten Jahren – durch den Erweiterungsprozess – fast den gesamten europäischen Kontinent erfassen. Die Europäische Kommission arbeitete zügig das asylpolitische Programm von Amsterdam ab. Zwischen Dezember 1999 und September 2001 legte sie Vorschläge zu allen asylrechtlich relevanten Aspekten – Asylverfahren, Aufnahmebedingungen, Flüchtlingsbegriff und ergänzende Schutzformen – vor. In der Grundtendenz orientieren sich diese Vorschläge an den Standards des internationalen Flüchtlingsrechtes – wie etwa der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Die Brüsseler Initiativen zeichnen sich durchgehend durch hohe Schutzstandards bei minderjährigen Flüchtlingskindern, bei traumatisierten Flüchtlingen und Vergewaltigungsopfern aus. Ihre Annahme würde zumindest einen partiellen Bruch mit der Asylpolitik der 90er Jahre bedeuten, die die «Harmonisierung » zur Metapher für einen Wettlauf der Restriktionen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU machte.

 

Bei der Fassung des Flüchtlingsbegriffes, dem Fundament der Vergemeinschaftung, sieht die Kommission auch die Anerkennung von nichtstaatlicher Verfolgung vor. Außerdem sollen die Mitgliedsstaaten auch geschlechts- oder kinderspezifische Formen von Verfolgung berücksichtigen. Asylsuchende, denen ergänzender Schutz gewährt wird, sollen nach einer Übergangsfrist weitgehend die gleichen sozialen Rechte wie Konventionsflüchtlinge erhalten. Zwar sieht die Kommission in der ersten Phase der Angleichung beim Asylverfahren noch die politischen Konzepte «sichere Herkunftsländer» und «sichere Drittstaaten» vor. Angesichts der bevorstehenden Erweiterung der EU stellt sie diese Konzepte in der zweiten Phase (ab 2004) jedoch zur Disposi tion. Aber auch schon jetzt formuliert Brüssel strengere Anforderungen an die Drittstaatenregelung. Anders als die bundesdeutsche Drittstaatenregelung – die restriktivste in der EU, die keine Einzelfallprüfung, sondern nur die direkte Zurückweisung vorsieht – soll die generelle Annahme der Verfolgungssicherheit in einem Drittstaat im Einzelfall widerlegt werden können. Um den Zugang zu einem Asylverfahren sicherzustellen, sollen die Grenzbehörden verpflichtet sein, Schutzsuchende an zuständige Asylbehörden weiterzuleiten. Auch in weiteren Punkten gehen die Kommissionsvorschläge über bundesdeutsche Standards hinaus: Der Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung gewährte insbesondere Flüchtlingen das Recht auf Familienzusammenführung ohne Restriktionen. Die EU-Kommission legte zudem einen zeitgemäßen Familienbegriff zugrunde, der auch nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften umfasst. Das Nachzugsalter von 18 Jahren als Standard in der EU wird aufgegriffen.

 

Kontinuität bundesdeutscher Blockadepolitik

 

Dass sich diese Vorschläge der Kommission letztendlich durchsetzen werden, scheint zurzeit eher unwahrscheinlich zu sein. Zum einen wurden im Amsterdamer Vertrag sehr undemokratische Rahmenbedingungen für die Schaffung eines europäischen Asylrechts vereinbart. Alle asylrechtlichen Maßnahmen müssen einstimmig im Ministerrat angenommen werden. Dies hat zur Folge, dass selbst wenn die Kommission flüchtlingsfreundlichere Richtlinienentwürfe einbringt, diese dann an dem Prinzip der Einstimmigkeit im Rat scheitern können. Im Zweifelsfall wird sich immer eine Regierung finden, die ihr Veto einlegt. Außerdem besitzt das Europäische Parlament kein Mitentschei dungs-, sondern nur ein Anhörungsrecht. Somit bleibt die Praxis der Union weiterhin von nationalstaatlichen Partikularinteressen geprägt.

 

Die Bundesregierung unter Helmut Kohl setzte diese Rahmenbedingungen bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag maßgeblich durch. Auf dem Reformgipfel in Nizza verhinderte die rot-grüne Bundesregierung den automatischen Übergang im Mai 2004 zu Mehrheitsentscheidungen und realen Mitentscheidungsrechten des Europaparlaments im Asylrecht erneut.

 

Die Angst damals wie heute: Europäische Regelungen könnten Liberalisierungen des bundesdeutschen Asyl- und Ausländerrechts zur Folge haben. Das möglichst lange Festhalten an der Einstimmigkeit als «Faustpfand» soll sozusagen eine kontrollierte Abgabe von Souveränitätsrechten ermöglichen.

 

Aber nicht allein durch das Einstimmigkeitsprinzip könnten relativ flüchtlingsfreundliche Vorschläge der Kommission durchkreuzt werden. Die Kommission von Antonio Vitorino steht unter starkem politischem Druck. Gewichtige Mitgliedsstaaten, so die Bundesrepublik, kritisieren den Brüsseler Grundansatz. Gewünscht wird eine willfährige Kommission, die auf Grundlage von restriktiven Leitlinien des Rates Vorschläge unterbreitet. Auf dem EU-Gipfel in Laeken im Dezember 2001 setzte sich die Bundesregierung mit diesem Ansatz durch. In der Abschlusserklärung von Laeken wurde die Kommission aufgefordert, bis Ende April 2002 neue Vorschläge zur Familienzusammenführung und zum gemeinsamen Asylverfahren vorzulegen – und zwar auf Grundlage der Leitlinien des Rates. Damit ist im Asylbereich ein vergleichsweise engagierter Ansatz für ein gemeinsames Asylrecht erst einmal gescheitert. Zurück bleibt eine politisch geschwächte Kommission und ein weiterhin ausstehendes europäisches Asylrecht. Bislang beschlossen wurde le diglich eine Richtlinie zum «vorübergehenden Schutz» von Flüchtlingen und der Schaffung eines europäischen Flüchtlingsfonds. Absehbar ist, dass bei der eigentlichen asylrechtlichen Harmonisierung – wenn überhaupt – nur Mindestnormen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner verabschiedet werden.

 

Offenes Europa oder Abschottungsgemeinschaft?

 

Während die Schaffung eines europäischen Asylrechts mit einem relativ hohen Schutzniveau also voraussichtlich verhindert wird, werden repressive Maßnahmen gegen Flüchtlinge in der EU immer weiter ausgebaut. Zu nennen ist hier etwa die Fingerabdruck- Datei EURODAC, die die Fingerabdrücke aller Asylsuchenden und «Illegalen » in der EU erfassen soll. Mit ihr sollen die starren Zuständigkeitsregeln bei der Asylprüfung zukünftig effizienter funktionieren – mit der Konsequenz, dass der größte Teil der Flüchtlingsaufnahme den östlichen und südlichen europäischen Staaten zugewiesen wird. Außerdem wurden eine neue Visa-Verordnung mit nunmehr 130 visumpflichtigen Ländern, die EU-weite Sanktionierung von Beförderungsunternehmen sowie diverse Maßnahmen zur «Schlepperbekämpfung » beschlossen.

 

Die Abschottungspolitik hat nun durch die Sicherheitspolitik nach dem 11. September erneut Konjunktur bekommen. Vor allem erneute Verschärfungen bei den Einreisebestimmungen und der exzessive Datentransfer zwischen Asyl- und Ausländerbehörden mit Geheimdiensten schwächen den Flüchtlingsschutz. Mitgliedsstaaten versuchen, ihre nationalen Anti-Terror-Pakete auf die EU-Ebene zu transferieren. Gefährden derartige Maßnahmen bereits auf nationalstaatlicher Ebene den Flüchtlingsschutz, so potenzieren sich diese Gefahren auf EU-Ebene. Denn im europäischen Kontext fehlt in zentralen Bereichen die demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament und die richterliche Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof.

 

Unter den aktuellen politischen Bedingungen und unter den institutionellen Vorgaben wird sich ein asylpolitischer Kurswechsel nur schwer bewerkstelligen lassen. Der Wegfall des Einstimmigkeitsprinzips, reale Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments und eine starke, parlamentarisch kontrollierte Kommission garantieren zwar nicht ein liberales europäisches Asylrecht. Sie wären aber erste Voraussetzungen, dass Positionen im Sinne eines effektiven Flüchtlingsschutzes überhaupt Gehör finden würden. Ohne diese ersten Reformen steht europäische Asylpolitik weiterhin nicht für Flüchtlingsschutz, sondern für den Schutz vor Flüchtlingen.