Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Jürgen Seifert

Terrorismus als Stunde der «Dienste»? Die Grenze zwischen Polizei und Nachrichtendiensten wird weiter verwischt

Grundrechte-Report 2002, S. 183-188

Den 11. September haben Geheimdienste nicht verhindern können; sie haben nicht einmal die Umrisse eines solchen Anschlags vorhergesehen. Doch weil die Verantwortlichen keinen anderen Weg sahen, den Attentaten eines unsichtbaren Feindes zu begegnen, hatten es diejenigen leicht, die einen Ausbau der Geheimdienste forderten. Verdrängt wurde die hier und dort aufkommende Einsicht, dass diese Form von Terrorismus auch eine Antwort war auf die Praxis einiger dieser Geheimdienste, die solche Terroristen einst selbst geschult hatten. In der Bundesrepublik hörte man sogar Stimmen, die meinten, einen Einsatz der Bundeswehr dadurch vermeiden zu können, dass der Kampf gegen Terroristen «Geheimdiensten » überlassen werde. Vergessen war die alte Erkenntnis aus dem Kampf um Demokratie, dass Demokratie und Geheimdienste sich widersprechen wie Feuer und Wasser.

 

Das Grundgesetz lässt keinen Spielraum für Geheimdienste, von denen hier die Rede ist. Nach den Erfahrungen mit der Gestapo suchten alle politischen Kräfte zu verhindern, dass eine Geheime Staatspolizei in Deutschland wieder entstehen kann. So galt für die Bundesrepublik ein Trennungsgebot zwischen den Nachrichtendiensten (die nur «zur Sammlung von Unterlagen » befugt sind, also ohne Exekutivbefugnisse arbeiten) und dem polizeilichen Vollzugsdienst.

 

Eine solche «Trennung» beinhaltet eine rechtsstaatliche Sicherung. Zugleich bedeutet sie unvermeidlich eine Konkurrenz zwischen der Polizei und diesen Apparaten. Die Polizei hat nicht akzeptiert, dass der vorverlagerte Staatsschutz dem Verfassungsschutz überlassen blieb. Mit der Berufung auf «präventive Gefahrenabwehr » und dem Argument, dass sie im Einsatz auf spezifische Informationen angewiesen sei, hat die Polizei für sich immer mehr Befugnisse im Rahmen der «präventiven Gefahrenabwehr » durchgesetzt. So wurde die Grenze zur Vorfeldaufklärung des Verfassungsschutzes mehr und mehr verwischt. Da sowohl der BND als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bei der Abwehr der Al-Qaida schon vor dem 11. September wichtige Erkenntnisse gesammelt hatten, wurden diese «Dienste » vorrangig mit neuen Aufgaben betraut, als sich auf der politischen Ebene des Bundes die Frage stellte, was die Bundesrepublik tun kann, um die neue Form eines religiösen Terrorismus besser abzuwehren.

 

Neue Befugnisse durch das Sicherheitspaket II

 

Das «Terrorismusbekämpfungsgesetz» wurde von den beiden Koalitionsfraktionen gemeinsam eingebracht, um die zusätzlichen Befugnisse zum Jahresbeginn 2002 Gesetz werden zu las sen. Die Verhandlungsführer der Grünen konnten den Entwurf der Ministerialbürokratie in wesentlichen Punkten modifizieren, zugleich aber wurde ihre Partei dadurch «eingebunden ». Der öffentliche Druck eröffnete jedoch weiteren Verhandlungsspielraum. In der Geschichte der Bundesrepublik hat es bisher keine Konstellation gegeben, in der ein Sicherheitspaket einer Bundesregierung nicht nur von Bürgerrechtsorganisationen, sondern auch von nahezu allen überregionalen Zeitungen so kritisiert wurde wie der «Otto-Katalog ». Auch in der öffentlichen Anhörung des Innen- und Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 30. November 2001 überwogen die kritischen Stellungnahmen von Datenschützern, Öffentlichrechtlern und Bürgerrechtlern. Lediglich die Präsidenten der bayerischen Landeskriminalpolizei und des bayerischen Verfassungsschutzes forderten weitere Verschärfungen. Eine Intervention aus dem Kanzleramt verhinderte dann, dass einige sozialdemokratisch geführte Länder die Union im Bundesrat unterstützten, um weitere Verschärfungen durchzusetzen.

 

Der Verfassungsschutz erhält neu die Kompetenz, auch solche Bestrebungen zu beobachten, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung etc. richten. Die Grenze zwischen Freiheitskämpfern und Terroristen bestimmt in Zukunft der Verfassungsschutz. Solche Observationen schließen die Möglichkeit ein, das Brief, Post- und Telekommunikationsgeheimnis im Rahmen der üblichen Verfahren einzuschränken.

 

Zusätzliche Eingriffsbefugnisse erhalten Verfassungsschutz, MAD und BND durch die Auskunftspflichten von Banken und Geldinstituten, von Luftverkehrsunternehmen und Dienstleistern von Luftfahrtunternehmen, Post-, Telekommunikationsund Teleunternehmen. Soweit Auskünfte das Bank-, Post- und Telekommunikationsgeheimnis betreffen, setzen sie eine Entscheidung der Kommission des Deutschen Bundestages nach Art. 10 GG voraus. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Befugnis des Verfassungsschutzes, unter den Voraussetzungen des G-10-Gesetzes «auch technische Mittel zur Ermittlung des Standortes eines aktiv geschalteten Mobilfunkendgerätes und zur Ermittlung der Geräte- und Kartennummern» einzusetzen. Die Polizei hatte solche Mittel (bekannt geworden ist der IMSICatcher) bereits genutzt. Die Entscheidungsbefugnis der G-10-Kommission und die Regelung der Mitteilung an Betroffene nach § 12 I Abs. 3 G 10 könnten eine Massenanwendung dieses Instruments zwar einschränken; dennoch legalisiert der jetzt zulässige Zugriff auf Geräte- und Kartennummern eine neue Qualität der Eingriffe in das Telekommunikationsgeheimnis.

 

Andere Änderungen wurden in der öffentlichen Diskussion zunächst wenig beachtet. Vermutlich deshalb, weil es dabei nicht um deutsche Staatsangehörige geht, sondern um Asylsuchende und um die Aufenthaltserlaubnis von Ausländern. Die Verfassungsschutzbehörden sind in Zukunft von sich aus berechtigt, «bekannt gewordene Informationen einschließlich personenbezogener Daten» an Ausländerbehörden weiterzugeben. Die Voraussetzungen sind weit gefasst. In Zukunft werden auf dieser Grundlage bei Entscheidungen über Asylgesuche, über eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Einbürgerung die Verfassungsschutzbehörden ihre Informationen vorlegen. Bayern hatte bereits seit der Änderung des Staatsangehörigkeitgesetzes durch die rot-grüne Mehrheit im Bundestag eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz durchgeführt. Jetzt liefert das neue Gesetz die Legitimation dafür, diese Praxis bundesweit auszudehnen, was offenbar so gewollt war. Das könnte Asylverfahren verändern. Erneut wird der Verfassungsschutz – wie im Kalten Krieg – die bloße Zugehörigkeit zu Organisationen feststellen und belegen müssen. Das bindet Kräfte. Doch wer meint, alle potenziellen Gegner (z. B. die Mitgliedschaft der PKK) erfassen zu müssen, verliert die Fähigkeit, gezielt gegen diejenigen vorzugehen, die außerhalb formeller Organisationszugehörigkeit religiös begründeten Terrorismus betreiben.

 

Die neuen Aufgaben bedeuten angesichts der Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer und der Größe der verbotenen PKK, dass der Verfassungsschutz davor bewahrt wird, die Überbesetzung aus der Zeit des Kalten Krieges abzubauen; er wird wieder aufgestockt. Höchst zweifelhaft ist allerdings, ob die neue Regelanfrage zur Abwehr der Al-Qaida überhaupt etwas bringt.

 

Eine Reaktion in Baden-Württemberg

 

Die Neupositionierung des Verfassungsschutzes hat Reaktionen bei Polizeiinstanzen hervorgerufen, die nicht nur der Qualität der Informationen der Verfassungsschutzbehörden misstrauen, sondern zugleich darauf hinarbeiten, dass die Polizei das Aufgabengebiet des Verfassungsschutzes in der Vorfeldaufklärung übernimmt. Ein Beispiel dafür ist der Vorstoß des Innenministers von Baden-Württemberg. Thomas Schäuble versucht durch eine Änderung des Polizeigesetzes dieses Landes, der Polizei zur «präventiven Gefahrenabwehr» auch die Befugnis zur Überwachung des Telekommunikationsgeheimnisses zu übertragen. Das würde der Polizei erlauben, ohne Anhaltspunkte für einen konkreten Tatverdacht – mit Hilfe der Unterschrift eines Richters – auch in diesen Bereich der Vorfeldaufklärung vorzudringen. Statt Polizei und Verfassungsschutz (beide sind dem Minister unterstellt) zur Zusammenarbeit bei bestimmten Informationen zu zwingen, versucht Baden-Württemberg, Kompetenzen der Polizei im Bereich der Überwachung der Telekommu nikation in einer Weise auszudehnen, die nicht nur eine effektive Kontrolle, sondern die seit 1968 geltende Systematik infrage stellt.

 

Rechtlich gibt es keinen Ansatz dafür, einen Sonderweg der Polizei für den Bereich der präventiven Gefahrenabwehr zu schaffen. Die StPO lässt dafür keinen Spielraum; im Übrigen ist Telefonüberwachung durch Bundesgesetz geregelt. Den Vorstoß versteht nur derjenige, der die Konkurrenz zwischen Polizei und Verfassungsschutz kennt.