Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Wolfgang Däubler

Tarifautonomie ohne Schutz. Der heimliche Abbau einer zentralen Verfassungsgarantie

Grundrechte-Report 2002, S. 137-143

Der Ausgangspunkt

Seinem Wortlaut nach schützt Art. 9 Abs. 3 GG nur das Recht des Einzelnen, «zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden». Schon in seiner ersten auf diese Garantie bezogenen Entscheidung vom 18. November 1954 ist das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) jedoch darüber hinaus gegangen: Art. 9 Abs. 3 GG schütze auch die Koalition als solche sowie die Freiheit ihrer Betätigung.

Diese so genannte kollektive Koalitionsfreiheit garantiert nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG jede «spezifisch koalitionsmäßige Betätigung» (s. etwa BVerfGE 58, 233, 246). Wichtigster Anwendungsfall ist das Recht zur verbindlichen Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen. Das BVerfG hat sich in zahlreichen Fällen zu Zweck und Funktion der Tarifautonomie geäußert. Der Abschluss von Tarifverträgen wird zum einen als ein Mittel verstanden, der Arbeitnehmerseite eine gleichberechtigte Einwirkung auf die Festlegung der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen und so die im Arbeitsvertrag angelegte strukturelle Unterlegenheit des einzelnen Beschäftigten zu überwinden. Daneben stützt sich das Gericht darauf, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften als sachnähere Akteure besser als der Staat geeignet seien, einen gerechten Interessenausgleich herbeizuführen. Schließlich geht es darum, das politische System zu entlasten und so «die Gemeinschaft sozial zu befrieden».

Eingriffsbefugnisse des Gesetzgebers

Genau wie andere Ausübungsformen von Grundrechten genießt die Tarifautonomie keinen absoluten Schutz. Vielmehr kann ihr der Gesetzgeber Grenzen ziehen. Eingriffe sind nach Auffassung des BVerfG zum Schutze der Grundrechte Dritter und anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechte zulässig. Ob auch der Schutz sonstiger Rechtsgüter genügt, blieb bislang dahingestellt. In allen Fällen ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu wahren (BVerfGE 94, 268, 284). Letzteres bedeutet ein Dreifaches:

• Der Eingriff muss «geeignet » sein, das heißt zumindest die Möglichkeit eröffnen, dass der Gesetzgeber auf diesem Wege das von ihm verfolgte Ziel erreichen kann.

• Der Eingriff muss «erforderlich » in dem Sinne sein, dass kein milderes Mittel verfügbar ist, das denselben Effekt erzielen würde.

• Der Eingriff muss schließlich auch in dem Sinne «verhältnismäßig » sein, dass er für den betroffenen Grundrechtsträger zumutbar ist.

Dabei ist eine Abwägung zwischen den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen und der Schwere des Eingriffs vorzunehmen. Soweit in bestehende Tarifverträge eingegriffen wird, bedarf das in Rede stehende Gesetz einer besonders starken Legitimation; dasselbe gilt dann, wenn in überkommene Regelungsgebiete der Tarifparteien wie zum Beispiel das Entgelt eingegriffen wird, während bei eher am Rande liegenden Fragen weniger strenge Anforderungen gelten (BVerfGE 100, 271, 286). Diese «Eingriffsvoraussetzungen » sind von einem relativ hohen Allgemeinheitsgrad. Je nachdem, wie sie gehandhabt werden, erfährt die Tarifautonomie gegen gesetzliche Eingriffe einen weitgehenden oder einen sehr geringen Schutz.

Aufweichung der Eingriffskriterien

Das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 hat den Kündigungsschutz, aber auch zahlreiche andere arbeitsrechtliche Normen abgebaut, um so einen Anreiz für mehr Einstellungen und damit einen Abbau der Arbeitslosigkeit zu schaffen. Die Erfolglosigkeit dieses Rezepts war vermutlich einer der Gründe dafür, dass es im September 1998 zu einem Regierungswechsel kam.

Das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz griff auch in die Tarifautonomie ein. Zwar blieb das gesetzliche Recht auf Entgeltfortzahlung für die Zeit einer medizinisch indizierten Kur bestehen, doch wurde dem Arbeitgeber unter bestimmten Voraussetzungen das Recht eingeräumt, zum Aus gleich den tariflichen Jahresurlaub zu kürzen: Nach der 1996 geschaffenen Neufassung des § 10 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) war der Arbeitgeber berechtigt, von je fünf Tagen, an denen der Arbeitnehmer infolge einer Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation an seiner Arbeitsleistung verhindert war, die ersten zwei Tage auf den Erholungsurlaub anzurechnen. Der gesetzliche Mindesturlaub von vier Wochen blieb unangetastet, sodass sich die Verrechnungsmöglichkeit ausschließlich auf den tariflich geregelten Bereich erstreckte.

Auf Vorlage des Arbeitsgerichts Heilbronn entschied das BVerfG mit Beschluss vom 3. April 2001, dass dieser Eingriff in die Tarifautonomie rechtens sei (BVerfG ZIP 2001, 1066ff.). Bemerkenswert daran ist weniger das Ergebnis als die Begründung: Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel hatte nach Auffassung des BVerfG Verfassungsrang. Der Abbau von Arbeitslosigkeit könne sich nicht nur auf das Sozialstaatsprinzip stützen; vielmehr gehe es auch darum, Arbeitslosen die Realisierung ihrer Grundrechte auf Berufsfreiheit und Persönlichkeitsentfaltung in der Arbeit zu ermöglichen. «Darüber hinaus» – so heißt es weiter – «ist die finanzielle Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ein Gemeinwohlbelang von hoher Bedeutung», der offensichtlich gleichfalls einen solchen Eingriff rechtfertigen soll. Eine verfassungsrechtliche Grundlage hierfür wird nicht genannt und ist auch nicht aus allgemeinen Erwägungen ersichtlich.

Von diesem Ausgangspunkt her wird zunächst die Geeignetheit des Eingriffs geprüft und mit durchaus akzeptabler Begründung bejaht: Dem Gesetzgeber kann in der Tat nicht von vorneherein ein Vorgehen verschlossen sein, das durch Verringerung der Lohnkosten die Beschäftigungssituation verbessern will. Wenn es allerdings heißt, auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung gebühre dem Gesetzgeber «ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang », so wird dies nirgendwo begründet, sondern schlicht behauptet.

Auch die Erforderlichkeit des Eingriffs wird bejaht. Zwar hätte der Gesetzgeber auch die gesetzliche Entgeltfortzahlung absenken können, doch sei es «nicht von Verfassung wegen zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Gesamtheit der von ihm angestrebten Entlastungseffekte durch solche Maßnahmen geringer eingeschätzt (hat) als die einer Anrechnung von Kurtagen auf den Erholungsurlaub». Hier setzt beim Leser ein wenig Verwunderung ein: Wenn man dem Arbeitgeber die Befugnis eingeräumt hätte, die Entgeltfortzahlung um zwei Fünftel zu kürzen, wäre exakt derselbe wirtschaftliche Effekt eingetreten, ohne dass tariflich begründete Rechte irgendwie in Mitleidenschaft gezogen worden wären. Wenn genau das gleiche Ziel auf anderem Wege, aber unter Wahrung des betroffenen Grundrechts erreichbar ist, so liegt geradezu ein Paradefall dafür vor, dass es an der Erforderlichkeit fehlt. Hier ist kein Platz für «Einschätzungen » und «Prognosen»; die Rechtskontrolle muss greifen.

Doch es kommt noch schlimmer. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, das heißt die Zumutbarkeit des Eingriffs, wird mit diffuser Begründung bejaht. Auf der einen Seite wird durchaus zugestanden, dass es um einen Eingriff in bestehende Tarifverträge und außerdem um einen zentralen Bereich der Tarifautonomie gehe, wo Art. 9 Abs. 3 GG «eine besonders große Wirkkraft» entfalte. Dies stelle erhöhte Anforderungen an das Gewicht der Gründe, die die Beeinträchtigung rechtfertigen können. Das ist eine Fortschreibung des bisher (zu Recht) Angenommenen. Dann wird jedoch zu einer «Gesamtabwägung » geschritten, bei der nicht mehr von der Tarifautonomie die Rede ist. Vielmehr müssten die konkreten Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beachtet werden, wobei zu berücksichtigen sei, dass die praktische Bedeutung des § 10 Abs. 1 BUrlG angesichts seines eingeschränkten Anwendungsbereichs relativ gering sei. Auf der anderen Seite stelle die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Gewährleistung der finanziellen Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ein «besonders wichtiges Ziel» dar, was den Eingriff zumutbar mache. Erneut wird dabei der «relativ große» Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers beschworen; auch sei zu berücksichtigen, dass die Regelung schon nach kurzer Zeit wieder aufgehoben worden sei. Dies geschah durch das Korrekturgesetz vom Dezember 1998, doch pflegt man ansonsten mit Recht allein auf den Zeitpunkt des Grundrechtseingriffs abzustellen: Dass eine veränderte parlamentarische Mehrheit in Zukunft anders denken und den Eingriff rückgängig machen wird, ist bislang noch nie als Grund für die Rechtfertigung eines Eingriffs herangezogen worden.

Konsequenzen

Mit seiner Entscheidung in Sachen Tarifurlaub hat das BVerfG dem Gesetzgeber einen Blankoscheck für Eingriffe in die Tarifautonomie ausgestellt. Soweit es um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder das (neu entdeckte) Verfassungsgut der finanziellen Stabilität der sozialen Sicherungssysteme geht, ist so gut wie jede Regelung möglich. Der umfassende Einschätzungsund Prognosespielraum des Gesetzgebers lässt faktisch die Überprüfung am Maßstab der Erforderlichkeit entfallen. Die Zumutbarkeit lässt sich so gut wie immer bejahen, wenn man auf das «verhältnismäßig geringe» Opfer der Beschäftigten im Vergleich zum Ziel «Reduzierung der Arbeitslosigkeit» abstellt. Dass sich dieses Ziel ja nicht realisieren muss (und auch nicht realisiert hat), schafft für das Ganze einen besonders schalen Beigeschmack: Die Taube auf dem Dach für den Arbeitslosen ist Grundlage für einen Eingriff in die Tarifautonomie, der fälschlicherweise nicht mehr als solcher, sondern allein von der Betroffenheit der Arbeitnehmer her beurteilt wird.

Die Tarifautonomie ist im Begriff, zu einem zahnlosen Tiger zu werden. Im Grundsatz wird sie mit hehren Worten garantiert, doch der Gesetzgeber kann sie so weit einschränken, dass kaum noch etwas von ihr übrig bleibt. Das Verfassungsgericht wäre gut beraten, seinen methodischen und inhaltlichen «Ausrutscher » bei nächster Gelegenheit zu korrigieren und dem Freiheitsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG wieder die ihm gebührende Wirkung zu verleihen.