Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Wolfgang Kaleck

Skandalfeld Untersuchungshaft. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte tadelt deutsche Gerichte wegen zu langer Haftdauer

Grundrechte-Report 2002, S. 219-224

Am 5. Juli 2001 erging eine denkwürdige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Die Beschwerde eines Kurden gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen überlanger Untersuchungshaft führte zu einem durchschlagendem Erfolg. Der Beschwerdeführer, Selahattin Erdem, war Angeklagter in einem der skandalträchtigsten politischen Strafverfahren in Deutschland, dem von 1989 bis 1994 andauernden PKK-Prozess vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG). Er war zunächst wegen Mordes angeklagt, später, am 7. März 1994, wegen Mitgliedschaft in der PKK zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits fünf Jahre und elf Monate in Untersuchungshaft gesessen. Das OLG hatte zwischenzeitlich mehrfach die Haftfortdauer bestätigt. Die richterlichen Beschlüsse enthielten in der Juristenwelt berühmt-berüchtigte Standardformulierungen wie: «In Anbetracht der Schwere Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden Art. 104 (1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. des Tatvorwurfs und der Straferwartung steht die bisherige Untersuchungshaft . . .» (von etwa 2 Jahren, so am 20. April 1990, von 2 Jahren und 9 Monaten, so am 19. Dezember 1990, von 3 Jahren und 8 Monaten, so am 28. November 1991) «. . . nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden

Strafe».

 

Der EGMR entschied nun, dass die zu Beginn des Verfahrens wohl zu Recht angenommene Fluchtgefahr zwar erheblich war. Die «beachtliche Länge der . . . erlittenen Freiheitsentziehung hätte aber auf wesentlich überzeugenderen Rechtfertigungen beruhen müssen». Die deutschen Gerichte hätten «außerdem die früheren Begründungen fast wörtlich übernommen», ohne neue Anhaltspunkte darzulegen.

 

Kein Einzelfall

 

Das Erdem-Urteil ist eine verdiente Abmahnung für die deutsche Strafjustiz und vor allem eine, die mitnichten einen Ausnahmefall betrifft. Das Urteil des EGMR behandelt zwar einen Fall mit politischem Hintergrund. Jeder Verteidiger kann aber aus seinem Alltag von einer Vielzahl von Fällen mit ungerechtfertigten Anordnungen von langen und andauernden Untersuchungshaftzeiten berichten, ebenso von Gerichtsbeschlüssen, die lediglich auf ihre Vorentscheidungen verweisen und sich damit in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des EGMR setzen. Eine einmal getroffene Haftentscheidung wird fast irrational verteidigt, Argumente der Verteidigung werden nur zu oft ausgeblendet, eine qualitative Kontrolle der Haftentscheidungen durch Obergerichte findet kaum statt.

 

Die Entscheidung aus Straßburg wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf die absolut skandalösen Zustände der Untersuchungshaft in Deutschland. Schon seit Jahrzehnten kritisieren Rechtsanwaltsorganisationen, Bürgerrechtsorganisationen und Wissenschaftler, dass in Deutschland zu schnell, zu viel und zu lange verhaftet werde.

 

Im strafrechtlichen Standardkommentar – kritischer Neigungen sonst unverdächtig – liest sich die Vorbemerkung zu den § § 112ff. Strafprozessordnung, den Untersuchungshaftregelungen, rechtsstaatlich besonnen:

 

«Die Untersuchungshaft . . . lässt sich mit der Unschuldsvermutung des Artikels 6 Abs. 2 EMRK nicht ohne weiteres vereinbaren. (Sie) darf nur in streng begrenzten Ausnahmefällen angeordnet werden.»

 

So die Theorie, in der Praxis der Strafverteidigung liest sich die Geschichte bekanntlich anders: «Die Untersuchungshaft ist das trostloseste Kapitel der Strafverteidigung! In keinem anderen Verfahrensbereich treten die Allmacht des Staates und die Ohnmacht der Verteidigung so deutlich hervor. Anträge auf Erlass von Haftbefehlen scheinen nahezu Selbstgänger, wenn es nur um das richtige Delikt und den passenden Beschuldigten geht.»

 

So einer der renommiertesten deutschen Strafverteidiger, Hans Dahs, in seinem Handbuch des Strafverteidigers. Die Untersuchungshaft stellt zweifelsohne einen der schwersten Grundrechtseingriffe unter der Herrschaft des Grundgesetzes dar. Zu Recht wird ihre Verfassungsmäßigkeit immer wieder infrage gestellt. Der heutige Bundesverfassungsrichter Hassemer nannte sie 1984 eine «Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen».

 

Doch im Alltag der Gerichte fehlt fast jegliche Sensibilität für diese verfassungsrechtliche Problematik. Im Gegenteil: Untersuchungshaft wird vor allem auch deswegen schnell angeordnet und dauert auch deswegen länger, weil sie in vielen Verfahren ein Druckmittel der Strafverfolgungsbehörden darstellt, Inhaftierte zu Geständnissen und zu einverständlichen Verfahrenslösungen zu bringen. Ein geflügeltes Wort bringt diese Praxis auf den Punkt: «Untersuchungshaft schafft Rechtskraft.»

 

Dazu kommen weitere Gründe für die zu häufige Anordnung von Untersuchungshaft. Gerade bei Ereignissen, die in der Presse große Beachtung finden, fühlen sich die Staatsanwaltschaften verpflichtet, Untersuchungshaft zu beantragen, und die Gerichte setzen dem wenig entgegen. Dies zeigen beispielsweise die hohen Inhaftierungszahlen nach jedem 1. Mai in Berlin-Kreuzberg oder ähnlichen Ausschreitungen, denen in den seltensten Fällen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung folgen.

 

Die Strafverfolgungsbehörden führen oft schlampige Ermittlungen, auch dies ist bereits untersucht worden. Viele Ermittlungsrichter sind zumeist jung und unerfahren und ersticken in Akten. Zu oft werden die vorformulierten Anträge der Staatsanwaltschaft in richterlichen Haftbefehlen einfach nur übernommen. Eine funktionierende rechtliche Kontrolle durch die Oberlandesgerichte findet ebenfalls nicht statt.

 

Dazu kommen in den meisten Fällen schlimmere Haftverhältnisse als für rechtskräftig verurteilte Täter, die im Strafvollzug landen. Gerade die an Gerichtsgebäude angeschlossenen Untersuchungshaftanstalten, wie in Berlin-Moabit, stammen oft noch aus dem vorletzten Jahrhundert, kleine Zellen mit integrierter Toilette ohne elektrische Anschlüsse. Mangelhafte Betreuung, mangelhafte Freizeitmöglichkeiten und mangelhafte Arbeitsmöglichkeiten erhöhen den Druck auf die Gefangenen.

 

Reformen?

 

Es mag manchem wenig lohnend erscheinen, in Zeiten leerer Kassen und populistischer Phrasendrescherei in der Kriminalpolitik über Reformen in der Untersuchungshaft nachzudenken – die Alternative aber wäre das Akzeptieren skandalöser schwerer Grundrechtseingriffe. Die Forderungen liegen alle seit langem auf dem Tisch:

 

1. Weniger Untersuchungshaft durch gesetzgeberische Maßnahmen: – nämlich Schaffung klarer Formulierungen statt unbestimmter Rechtsbegriffe wie «Fluchtgefahr », unter die jedes Gericht subsumieren kann, was es will; – außerdem Festschreiben von Höchstfristen für Untersuchungshaftzeiten (bis zur Anklageerhebung, nach Anklageerhebung, nach Hauptverhandlungsbeginn).

 

2. Weniger Untersuchungshaft durch organisatorische Maßnahmen: – nämlich die obligatorische Beiordnung von Pflichtverteidigern bei Verkündung von Haftbefehlen, – die sofortige Einschaltung der sozialen Gerichtshilfe, um den Inhaftierten praktische Hilfe zu bieten und mit ausführlichen Berichten über ihre soziale Situation zu Beginn der Ermittlungen die Haftentscheidungen auf eine solidere Tatsachengrundlage zu stellen, so genannte Haftentscheidungsprogramme, wie sie in Frankreich und Belgien existieren.

 

3. Weniger Untersuchungshaft durch Entwicklung von Alternativen: – weitestgehende Abschaffung der Untersuchungshaft für Jugendliche und Heranwachsende; – Ausarbeitung von Alternativen auch im Erwachsenenbereich, zum Beispiel Beschaffung von Wohnraum bei Obdachlosen, bei denen der Haftgrund Fluchtgefahr oft nur aus dem Fehlen eines festen Wohnsitzes geschlossen wird, Vermittlung von betreuten Wohnungen, Heimunterbringungen, Alkoholsucht- und anderen Drogensuchttherapien.