Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Peter Grottian

Rot-grüne Armutspolitik findet nicht statt. Bürgerinitiativen machen die «verdeckte Armut» zum Thema

Grundrechte-Report 2002, S. 177-182

Es gibt keinen Zweifel. Die Analyse der Entwicklung in Deutschland bis 1998 macht in fast allen Lebensbereichen deutlich, «dass soziale Ausgrenzung zugenommen und Verteilungsgerechtigkeit abgenommen hat» (Erster Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2001, XV). Der Bericht orientiert sich an der Definition des Rates der Europäischen Gemeinschaft (1984), nach der Personen, Familien und Gruppen als arm gelten, «die über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist». 1988 waren im früheren Bundesgebiet zwischen 6,6 und 20 Prozent der Bevölkerung (wohlgemerkt die Ausländer) diesem unteren Einkommenssegment zuzurechnen, das waren 3,9 bis 11,9 Millionen Personen. Im Ostteil der Republik waren es jeweils zwischen 2,8 und 11,9 Prozent oder 0,5 bis 1,8 Millionen Menschen.

 

Die rot-grüne Bundesregierung betreibt keine qualitativ verbesserte Armutspolitik. Das wird in einer Textpassage des Ar- muts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (April 2001) deutlich (S. 93):

 

«Obwohl die Sozialhilfe das wichtigste Instrument zur Verhinderung und Beseitigung von Armutslagen ist, nehmen nicht alle Haushalte ihren Anspruch wahr. Das Ausmaß der Nichtinanspruchnahme und die Gründe dafür sind nicht umfassend erforscht. Meist werden vom Volumen her geringfügige Ansprüche nicht realisiert. Neben bewusstem Verzicht gehört weiterhin Unkenntnis, zum Beispiel über den Anspruch auf Hilfe in Ergänzung niedriger Erwerbseinkommen oder Lohnersatzleistungen zu den Gründen.»

 

Seriöse Studien und Schätzungen (Caritas 1993, Hans-Böckler- Stiftung 2000, Institut für Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung 1998) belegen, dass auf 100 Sozialhilfeempfänger nochmals ein qualitativ schwierig einzuschätzender Anspruchskorridor von 100 bis 110 Personen sehr plausibel ist. Sie realisieren aus Unwissenheit, Scham oder Angst ihre Ansprüche nicht. In den Schlussfolgerungen ist das der Bundesregierung nicht mehr als die Bemerkung wert, eine neue Studie in Auftrag zu geben.

 

Die These, dass Rot-Grün im Prinzip keine Armutspolitik betreibt, lässt sich an vielen Punkten des Berichts ablesen. Erstens wagt die Regierung noch nicht einmal, an durchschnittlichen Arbeits- und Lebenslagen der Armen darzustellen, ob es ihnen in materiellen, sozialen und kulturellen Teilhaberechten seit 1998 bis 2001 tatsächlich besser geht (von Kindergelderhöhungen, Heizkostenzuschuss und Neuberechnung des Arbeitslosenentgelts abgesehen). Hätte die Regierung hier etwas vorzuzeigen, würde es auch vorgezeigt. Zweitens werden die Armen und verdeckt Armen fast verhöhnt, wenn die Regierung ihre gesamten Regierungsanstrengungen als dynamische Armutspolitik darstellt, aber deren Strategien gerade die Armen nicht erreichen. Das Vorzeigeprojekt Steuerreform hat in seinen Entlastungswirkungen (1998–2006: 249 Mrd. DM!) gerade die Armen nicht im Sinn, sondern die «neue Mitte» derer, die am Erwerbsprozess beteiligt sind. Wer von 400 bis 700 Euro monatlich leben muss, dem bringt die Steuerreform (außer beim Kindergeld) keinen Euro mehr. Auch die Angebote auf dem Weg über die aktive Arbeitsmarktpolitik haben sich gerade für die Armen nicht verbessert. Deshalb schlägt die von Bundeskanzler Schröder bewusst inszenierte «Faulenzerdebatte» auf ihn und das Bündnis für Arbeit zurück. Schröders Äußerungen spiegeln eine Politik gegen die Armen und keine Armutspolitik wider. Zur Komplizenschaft des Schweigens zur «verdeckten Armut» gehört auch, dass die CDU/CSU – im Gegensatz zu den 70er Jahren (Geißler) – keine armutspolitischen Konzepte entwickelt hat. Von der FDP ist konsequenterweise nichts zu hören, und auch die Kirchen und Wohlfahrtsverbände lassen trotz mancher Anstrengungen politischen Druck vermissen.

 

Für die wartenden Sozialhilfeberechtigten stellt sich die Situation existenzieller dar: Seit Verabschiedung des so genannten Solidarpakts 1993 ist der Regelsatz der Hilfe zum Lebensunterhalt in den alten Bundesländern lediglich um 6,3 Prozent erhöht worden. Dabei waren aber bereits im Jahre 2000 die Lebenshaltungskosten für Haushalte in der Sozialhilfe im gleichen Zeitraum um 15,9 Prozent gestiegen. Bei einem Eckregelsatz von 550 DM in Berlin ergibt allein diese Differenz von 9,6 Prozent für den Sozialhilfeberechtigten einen Fehlbetrag von knapp 53 DM pro Monat. Es gehört wenig Phantasie dazu, um sich vorzustellen, dass die aktuellen Belastungen durch die gegenwärtigen Teuerungsraten das sozialhilferechtliche Existenzminimum noch weiter nach unten definieren. Rot-grüne Armutspolitik und ihre schwarz-roten, schwarz-gelben und rot-roten Ländervarianten haben die Regelsätze zwischen 1998 und 2001 von 540 auf 550 DM und für Kinder bis 7 Jahre um 5 DM erhöht. Schröder, obwohl aus sehr bescheidenen sozialen Verhältnissen stammend, weiß wie man systematisch eine Debatte zur Armut vermeidet. Eine Repolitisierung der Armut steht an.

 

Von einem kleinen bescheidenen Versuch ist zu berichten, der möglicherweise ansteckend wirkt: neben Sozialbündnissen, «Sozialamtsbesuchen » von Erwerbslosen-Protestgruppen, Zeitungsprojekten der Obdachlosen etc. Mit einer stadtweiten Beratungsaktion im Mai 2001 hatte die Kampagne «Fehlt Ihnen etwas?» ihre Aktivitäten gegen «verdeckte Armut» ausgeweitet. In allen Bezirken Berlins gab es Beratungsstände, an denen sozial benachteiligte Bürgerinnen und Bürgern eine kompetente Beratung über ihre sozialen Grundrechte angeboten wurde. Die Forderung der Aktion war: Alle Bedürftigen müssen einen Zugang zur Sozialhilfe erhalten, ebenso wie Arbeitsfähige einen Zugang zum Arbeitsmarkt. Der Beratungstag war eine erneute Anstrengung der Kampagne, auf die «verdeckte Armut» in der Stadt hinzuweisen und diese zu bekämpfen. Sie stand auch in Zusammenhang mit dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, durch den bisher weder die Armen noch die «verdeckten Armen» zu Adressaten der Politik gemacht wurden. Über 40 Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände sind mittlerweile an der Kampagne beteiligt, die von Studenten des Otto-Suhr-Instituts der FU Berlin gemeinsam mit Caritas, Diakonie und Paritätischem Wohlfahrtsverband und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie initiiert wurde. Die Hälfte der Berliner Bezirksämter (Lichtenberg-Hohenschönhausen, Marzahn- Hellersdorf, Pankow, Steglitz-Zehlendorf, Tempelhof- Schöneberg, Treptow-Köpenick) hatte sich beteiligt, um mit dieser ungewöhnlichen Beratungsform zu helfen. Mit dieser bürgernahen Aktion haben die Initiatoren eine Sozialberatung von 1500 Betroffenen erreicht.

 

Ein solches Angebot öffentlicher Beratung sollte im Interesse der öffentlichen Träger sein. Zum einen wird dem Anliegen, den «verdeckt Armen» zu ihrem Recht zu verhelfen, durch eine gemeinsame Aktion mit den politisch Verantwortlichen Nachdruck verliehen, zum anderen ist es schlicht die gesetzliche Pflicht der Leistungsträger, die Bevölkerung über ihre sozialen Rechte aufzuklären ( § 13 SGB I) und sie zu beraten ( § 14 SGB I). Wie problematisch selbst die Bezirksämter ihre Beratungstätigkeiten einschätzen, lässt sich an der Beteiligung der Hälfte aller Bezirke ablesen: Sie stehen zwischen Kosteneinsparung, Überlastung und der Suche nach neuen Beratungswegen.

 

Die Debatten über Sozialschmarotzer, Drückeberger und den Zwang zur Arbeit überdecken in der öffentlichen Wahrnehmung die «verdeckte Armut». Anstatt mit erheblichem auch finanziellem Aufwand wenige Missbraucher aufzuspüren, sollten diese Ressourcen für zielgerichtete Beratung zur Hilfe zur Selbsthilfe, zur Qualifizierung und zur Suche und Vermittlung von Arbeit verwandt werden. Die Schaffung und Bereitstellung von Arbeitsplätzen und deren Finanzierung ist hierfür Voraussetzung – eine Aufgabe von Politik und Wirtschaft. Bereits im Herbst 2000 veranstaltete die Kampagne einen Beratungstag in vier Bezirken. Passanten wurden dabei vor Kaufhäusern oder in Einkaufsstraßen freundlich angesprochen, ob sie Fragen zur Sozialhilfe hätten und wenn ja, ob sie denn ihre sozialen Grundrechte mittels der Sozialhilfe bereits wahrgenommen hätten. Die große Resonanz, die dieser Beratungstag fand, bestätigte die Wahl der innovativen Form der Sozialberatung: raus aus Amtsstuben und Beratungsstellen auf die Straßen. Es muss mehr als bisher auf die Betroffenen zugegangen werden, um die Schwellenängste zu reduzieren und gerade die Ärmsten der Armen besser zu erreichen. Vorangegangen war im Sommer 2000 die erste Stufe der Kampagne. In einer stadtweiten Anzeigenkampagne in Presse, Hörfunk und mit Werbeflächen in U-Bahnen wurde über «verdeckte Armut» informiert. Ferner gab es eine Telefon-Hotline, unter der fünf Wochen lang eine kompetente Beratung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wohlfahrtsverbände angeboten wurde. Diese Initiativen stehen nicht allein. In Hamburg, München und sogar mit der Nationalen Armutskonferenz der Schweiz entstehen Folgeprojekte, um das Thema in vielfältiger Art auf die politische Agenda zu bringen.