Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Helmut Kramer

Rechtlos im Strafvollzug?

Grundrechte-Report 2002, S. 169-172

Darf der Rechtsstaat seinen auf Rechtsrat angewiesenen Bürgern verwehren, von Mitbürgern Hilfe zu erbitten, wenn sie Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen, vielleicht sogar Opfer justizförmigen Unrechts werden? Die Frage erscheint absurd. Tatsächlich gibt es ein solches Verbot nirgendwo – mit Ausnahme der Bundesrepublik. Deutschland ist der einzige Staat, in dem es dem Bürger verwehrt ist, sich von Freunden, Nachbarn oder anderen Bürgern in Rechtsfragen beraten zu lassen – es sei denn, sie sind Rechtsanwalt. Tut er dies doch, so wird zwar nicht er bestraft, wohl aber der Ratgeber, gleichviel ob er unentgeltlich oder kommerziell gehandelt hat. So steht es im Rechtsberatungsgesetz.

 

Das Gesetz wird zwar nur selten angewandt. Mit Vorliebe greifen Behörden und auch die Justiz aber zu dem Zaunpfahl des Rechtsberatungsgesetzes, wenn es um die Durchsetzung der Rechte von Angehörigen sozialer Randgruppen geht. Schließlich könnte die Bearbeitung mit der Gewährung von Rechten verbunden sein.

 

Das ist auch der Hauptgrund dafür, dass Anstaltsleitungen das Gesetz besonders rigoros anwenden, wenn Gefangene untereinander Rechtsrat austauschen. Dann kommt es rasch zu Hausstrafen, auch zu Ordnungswidrigkeitenverfahren und Geldbußen.

 

Im Bundesland Bayern mit seinem besonders drakonischen Strafvollzug geht man noch weiter. Gefangene, die im Verdacht von Rechtsberatung stehen, werden daran gehindert, sich auch nur persönlich über die Rechte eines Strafgefangenen zu unter richten: Als das Komitee für Grundrechte und Demokratie die Bitte des in der JVA Würzburg einsitzenden Strafgefangenen S. um Übersendung des harmlosen Buches «Strafvollstreckung » von Alois Wagner erfüllen wollte, wurde das Buch von der Anstaltsleitung einbehalten und ohne jegliche Begründung und auch ohne jegliche Mitteilung an das Komitee zur Habe des Gefangenen genommen. Von der Beschlagnahme erfuhr das Komitee nur zufällig.

 

Auf seine Beschwerde teilte Regierungsrat Weigand von der JVA Würzburg dem Komitee am 30. November 2000 mit: «Es wird davon abgesehen, Ihr vorbezeichnetes Schreiben, mit dem Sie in unangemessener Weise die Vollzugspraxis der hiesigen Anstalt als grundrechtswidrig bezeichnen und mit einer Menschen verachtenden Gesellschaftsordnung in Verbindung bringen, zu beantworten.»

 

Was war geschehen: Hatte das Komitee in seiner Beschwerde von Nazi-Methoden oder Ähnlichem gesprochen? Nichts dergleichen. In seiner Beschwerde hatte das Komitee lediglich auf die historische Tatsache aufmerksam gemacht, dass das Rechtsberatungsgesetz vom 13. Dezember 1935 «aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt» und dass mit ihm «die wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung jüdischer Anwälte betrieben wurde» (zu der Entstehungsgeschichte des historisch schwer belasteten Gesetzes vgl. Ingo Müller, Grundrechte-Report 2001, S. 56ff.).

 

Auch unabhängig von der rechtsgeschichtlichen Kontroverse hat die Anstaltsleitung in Würzburg mit der Weigerung, die Beschwerde des Komitees in der Sache zu beantworten, einen offensichtlichen Rechtsverstoß begangen. Es gehört zu den Grundpflichten der Verwaltung, dass jede Eingabe beantwortet werden muss. Das Komitee hatte sich über die unterlassene Weiterleitung des Buches beschwert. Also hätte die JVA spätestens jetzt die Gründe für das Anhalten des Buches mitteilen müssen. Wer den Vorfall mit der Laune eines einzelgängerischen Anstaltsleiters abtun möchte, täuscht sich. Auf die weitere Beschwerde des Komitees beschied Ministerialrat Prof. Dr. Arloth vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz das Komitee am 14. März 2001 dahin, die «Entscheidung » der JVA Würzburg sei nicht zu beanstanden. Die Zusendung von Büchern an Gefangene bedürfe der «vorherigen » Genehmigung durch die JVA. Unabhängig davon wäre die Aushändigung des Buches auch bei Vorliegen eines Antrages des Gefangenen nicht genehmigt worden, da der Gefangene bereits unerlaubte geschäftsmäßige Rechtsberatung für Mitgefangene betrieben habe und ihm juristische Fachliteratur deshalb entzogen werden müsse. Diese Begründung lässt sich mit dem Strafvollstreckungsgesetz nicht vereinbaren.

 

Mit dem ohnehin fragwürdigen Verbot der Rechtsberatung hat die Beschlagnahme des Buches nichts zu tun, auch nicht mit den Problemen, die sich daraus ergeben können, dass rechtserfahrene Gefangene die Unterversorgung der Anstalten mit Sozialdiensten ausnützen und ihre begehrten Fähigkeiten mitunter als «Knastwährung» einsetzen und zu in der Anstaltssubkultur nicht unbedenklichen Abhängigkeitsverhältnissen aller Art missbrauchen. Selbst wenn Maßnahmen zur Einschränkung von Rechtsberatung gestattet wären, gehört dazu sicherlich nicht, Gefangene daran zu hindern, sich aus allgemein zugänglichen Quellen über die ihnen zustehenden Rechte zu informieren. Die ministerielle Entscheidung ist deshalb willkürlich. Ministerialrat Arloth hätte auch die rüde Art nicht ungerügt lassen dürfen, mir der der Würzburger Anstaltsleiter die Pflicht jedes Anstaltsleiters zu einer begründeten Sachentscheidung verletzt hat. Eine Rüge hätte auch verdient, dass weder das Komitee von dem Anhalten des Buches unterrichtet worden ist, noch dem Gefangenen die Gründe für die Maßnahme mitgeteilt worden sind. Die Kette der – von dem bayerischen Justizministerium rügelos hingenommenen – Rechtsverstöße fügt sich in das auch aus anderen Berichten – und leider auch aus Entscheidungen bayerischer Strafsenate in Vollzugssachen – hervorgehende Bild, wonach Verletzungen des Strafvollzugsrechts Bestandteil einer systematischen und nicht selten als menschenrechtswidrig zu bezeichnenden regierungsamtlichen Praxis des Vollzuges in Bayern sind.

 

Die für die Rechtsstaatlichkeit des Vollzuges Verantwortlichen sollten alles dafür tun, um durch beispielhaftes eigenes Verhalten den Gefangenen klar zu machen, dass es durchaus möglich ist, ein straffreies Leben zu führen und die Regeln eines ordentlichen menschlichen Zusammenlebens zu beachten. Wer diese Regeln selbst missachtet, fördert nicht das Vollzugsziel – die Gefangenen zu Recht und Ordnung anzuhalten –, sondern sabotiert es durch das eigene schlechte Vorbild geradezu.

 

Darf nun der Bürger ungerügt die nationalsozialistische Herkunft eines Gesetzes erwähnen? Es kommt darauf an. Nach dem früheren Bundesrechtsanwaltskammerpräsidenten Felix Busse greift «tief unter die Gürtellinie», wer das Gesetz als Relikt aus der Nazi-Zeit bezeichnet. Ganz anders der Staranwalt Rainer Hamm zu dem Parteispendenverfahren gegen Helmut Kohl: Das Landgericht Bonn hätte dem verdienten Altbundeskanzler absolute Unschuld attestieren müssen. Schließlich stamme der Untreueparagraph aus dem Jahr 1933.