Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Burkhard Hirsch

Rechtlos durch geheime Staatsdatei? Das Recht auf Ausreise, «Limo» und die Gipfel der EU

Grundrechte-Report 2002, S. 50-58

Der Grenzbeamte warf einen Blick auf das Gesicht, den Pass und sein Terminal. Dann beschied er den Reisenden: «Steigen Sie aus, Ihre Reise ist hier zu Ende.» Es handelte sich nicht um einen Grenz-Vopo der DDR und um keinen Flüchtling von dort. Es war 2001, der Beamte gehörte zum Bundesgrenzschutz, der Reisende war ein Student auf dem Weg nach Genua. Das wiederholte sich in einer nicht be kannten Zahl von Fällen, auch bei Reisenden zum EU-Gipfel in Belgien. Da hatten manche von der Polizei kulanterweise ein «Gefährderanschreiben » bekommen. Die Beamten handelten nicht auf eigene Faust, sondern in Übereinstimmung mit dem zurzeit geltenden deutschen Passgesetz.

Der Student hatte Fahrkarte und Pass. Er wurde weder polizeilich noch sonst gesucht. Gegen ihn lief kein Straf- oder Ermittlungsverfahren. Er hatte einmal gegen eine NPD-Kundgebung demonstriert. Das Verfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz war gegen ein Bußgeld von 300 DM eingestellt worden, eine bescheidene Summe im Vergleich zu den Beträgen, die der hessische Innenminister Bouffier oder der Herr Altbundeskanzler Dr. Kohl der Staatskasse entrichten mussten, damit ihre Strafverfahren eingestellt würden. Der Student war in der Datei «Limo » gelandet. Er wurde weder über diese Verdatung noch über ihre Gründe informiert. Er hatte also keine Möglichkeit gehabt, sie gerichtlich nachprüfen zu lassen. Wo kämen wir auch hin, wenn wir diesen Rechtsbrechern auch noch mitteilen würden, dass wir uns ihre Namen gemerkt haben!

Wer wissen wollte, wer, wie lange und warum in die bundesweite Datei «Linksmotivierte Gewalttäter» eingestellt wird, stieß auf entschlossenes Schweigen. Es ist keine Errichtungsanordnung veröffentlicht, Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium verweisen an die Länder. Und sie werde ja gerade überarbeitet – mit anderen Worten, es gibt sie nicht. Der Sache kommt man näher durch Antworten des Parlamentarischen Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper (SPD) vom 20. Februar 2001, (BT-Drs 14/5376) und 27. September 2001, (BT-Drs 14/ 6990) auf Fragen der Abgeordneten Ulla Jelpke
(PDS).

Die Innenminister hätten am 24. November 2000 derartige Dateien «Gewalttäter Rechts» und «Gewalttäter Links» beschlossen. Das BKA habe sie im Januar 2001 eingerichtet, die Errichtungsanordnung werde mit dem Datenschutzbeauftragten noch beraten, man sei noch nicht fertig. Die Länder seien informiert, sie hätten sich dazu nicht geäußert. Es gehe um Verurteilte und Beschuldigte, Hausfriedensbruch und Versammlungsgesetz seien auch dabei, natürlich gehe es «nicht nur» um Gewalttaten. Auch sonstige Personen könnten aufgenommen werden, wenn «Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie künftig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen» würden. Und dann kommt der wirklich schöne Satz: Eine darüber hinausgehende Definition «verbietet sich, weil Lebenssachverhalte und Präventionsbedürfnisse sich solcher starren Einordnung grundsätzlich entziehen». Wie schön! Verbietet sich! Der Verfasser muss sich kaputtgelacht haben, als er das zu Papier gebracht hatte. Die Speicherung erfolgt für fünf Jahre, bei Kindern für zwei Jahre – und kann verlängert werden.

Wenn der Staatssekretär nicht nur scherzen wollte, sondern die Dateien ernsthaft geschildert haben sollte, dann reicht bei einer unbestimmten Zahl von Delikten, die keine Gewaltausübung durch den Beschuldigten voraussetzen, schon die Einleitung von Ermittlungen, um zumindest auf fünf Jahre in die Datei als politisch motivierter Gewalttäter aufgenommen zu werden. Der Verdatete wird nicht etwa gelöscht, wenn er freigesprochen oder das Verfahren eingestellt oder wenn eine Verurteilung schließlich im Bundeszentralregister gelöscht wurde. Er bleibt auf fünf Jahre verdatet. Der Polizei brauchen keine noch so vagen Tatsachen dafür vorliegen, dass der Betroffene in Zukunft erneut in ein Verfahren verwickelt sein könnte. Nur wenn offensichtlich keine strafbare Handlung vorliegt, setzt die Verdatung eine negative Prognose voraus. Die «Annahme» genügt auch hier für zunächst mal fünf Jahre. Auch Kinder können er fasst werden. Eine Benachrichtigung der Betroffenen erfolgt erklärtermaßen nicht. Selbst auf eine Anfrage hin können sie nicht sicher erfahren, ob sie verdatet wurden oder nicht. Außer den beiden Anfragen gibt es keine Reaktion des Parlaments. Es weiß nur, dass inzwischen 1423 Personen als potenzielle Gewalttäter verdatet sind. Die Bundesregierung konnte nicht sagen, warum sie erfasst wurden. Über den Erfolg dieser für äußerst dringend erklärten Maßnahme wisse sie nichts. Keiner wurde benachrichtigt, und darum hat sich bisher auch niemand beschwert. Der Staatssekretär fand das gut so.

Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass schon die Aufnahme in eine Datei die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen verletze und daher eine klare gesetzliche Grundlage erforderlich sei. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht verlange, dass jedermann anhand der gesetzlichen Regelung erkennen kann, wer was über ihn wisse. Die Bundesregierung beruft sich auf das BKA-Gesetz. Es kann jedoch nicht ernsthaft bestritten werden, dass das nicht reicht und die dargestellte Handhabung dieser Dateien eine solche Kenntnis unmöglich macht.

Das Ergebnis ist verheerend: Zwar ist die Datei nicht unmittelbare Grundlage für polizeiliches Handeln. Das ist § 10 des Passgesetzes. Er gibt den Polizeibehörden – nach einer Rechtsänderung aus Anlass des Hooligan-Anschlags auf den Polizeibeamten Nivel – die Möglichkeit, «einem Deutschen die Ausreise in das Ausland zu untersagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen», er gefährde erhebliche Belange der Bundesrepublik. Früher konnte nur die Bundesregierung durch Einzelweisung unter engen Bedingungen die Ausreise unterbinden. Heute können die Polizeibehörden ein grundlegendes Recht aufheben, wenn «Tatsachen die Annahme rechtfertigen», es würden «Belange gefährdet». Für die Polizei genügt die Eintragung in die Datei und das Reiseziel Genua oder Brüssel, um die Annahme zu rechtfertigen, man wolle dort Krawall schlagen – auch ein politisches Werturteil über die EU-Gipfel.

Ausgerechnet der Berliner Senator für Inneres beschwichtigte, das Recht zur Ausreise sei nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kein Grundrecht. Er täte gut daran, das Elfes-Urteil vom 16. Januar 1957 nicht nur lesen zu lassen, sondern selbst zu lesen und die damals geltende Fassung des Passgesetzes ebenso. Die Ausreisefreiheit, sagt das Verfassungsgericht, sei durch die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG innerhalb der Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Das – damalige – Passgesetz sei insofern nicht zu beanstanden, als ein Pass bei Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit des Bundes oder eines Landes versagt werden könne. Bedenken könnten allerdings entstehen, sagt das Gericht, soweit die Passversagung schon wegen der «Gefährdung sonstiger erheblicher Belange» erfolgen könne. Bei solchen allgemeinen Begriffen bestehe die Gefahr, dass der Gesetzgeber die Passversagung und damit die Ausreisefreiheit in das unüberprüfbare Ermessen der Passbehörde stelle. Das könne verfassungsrechtlich keinen Bestand haben. Der Gesetzgeber dürfe «sich seines Rechts, die Schranken der Freiheit zu bestimmen, nicht dadurch begeben, dass er mittels einer vagen Generalklausel die Grenzziehung im Einzelnen der Verwaltung überlässt ». Die Verwaltung müsse zunächst die konkreten Tatsachen feststellen, die sie zur Passversagung führten. Diese Gründe müssten im Einzelfall so erheblich sein, dass sie einer Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik nahe kommen und «so erheblich sind, dass sie der freiheitlichen Entwicklung der Bundesrepublik aus zwingenden staatspolitischen Gründen vorangestellt werden müssen». Das Gericht missbilligt ausdrücklich das Verhalten der Passbehörde, weil sie dem Betroffenen die Versagungsgründe nicht mitgeteilt hatte. Ausnahmen vom Begründungszwang seien mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz unvereinbar, dass ein Staatsbürger, in dessen Rechte eingegriffen werde, einen Anspruch auf eine Begründung habe, weil er sonst seine Rechte nicht sachgemäß verteidigen
könne.

Diese rechtsstaatlichen Mindestvoraussetzungen sind nicht nur in dem dargestellten Fall verletzt worden. Die bisher bekannten Bedingungen für die Aufnahme in die Dateien, die Aufrechterhaltung für fünf Jahre auch bei einer Einstellung des Verfahrens oder Freispruch und die Nichtbenachrichtigung der Betroffenen widersprechen der Verfassung. «Jedermann », formuliert Art. 13 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, «hat das Recht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen und in dieses Land zurückzukehren.» Der Art. 12 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 verspricht: «Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen.» Dieses Recht dürfe nur zum Schutz der nationalen Sicherheit und des ordre public eingeschränkt werden. In der Schlussakte von Helsinki und nicht zuletzt in der «Charta von Paris über ein neues Europa» vom 21. November 1990 wird nicht vergessen, über die menschliche Dimension von Begegnungen mit herzzerreißender Lyrik zu sprechen, über die Reisefreiheit als unerlässliche und nach Kräften zu fördernde und über die Verpflichtung aller demokratischen Staaten, diese Rechte mit Feuer und Schwert zu schützen. Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erließ die Richtlinie 64 /221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, gebilligt vom Parlament, zuletzt geändert am 3. Januar 1994: Die Gründe für die Verweigerung einer Einreise dürften nur schwerwiegender Natur sein, und strafrechtliche Verurteilungen als solche reichten dafür nicht aus. War das alles
nur Kalter Krieg?

Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Der Bundesinnenminister weiß das alles. In der Begründung seines Zuwanderungsgesetzes führt er aus – zu Art. 2 § 6 des Gesetzentwurfs –, die Einschränkung der Freizügigkeit setze nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eine tatsächliche und so schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit voraus, dass sie ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Maßnahmen, die die Freizügigkeit begrenzen, seien auch bei einer strafrechtlichen Verurteilung wegen «mittelschwerer oder schwerer Delinquenz» nicht gerechtfertigt. Es müsse sich um besonders schwer wiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung handeln, die insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen anzunehmen sei, «wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Deliktes rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde». Es müsse sich um gefährdendes persönliches Verhalten des Betroffenen handeln.

Dementsprechend reicht nach Art. 2 § 6 des Gesetzentwurfs eine strafrechtliche Verurteilung für sich allein nicht. «Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt.»

Es ist unverständlich, dass derselbe Innenminister, der diese Grundsätze für die Gestattung oder Versagung der Einreise eines Unionsbürgers in die Bundesrepublik gesetzlich verankern will, den deutschen Bürger bei der Gestattung oder Versagung der Ausreise in ein anderes Land der Europäischen Union entscheidend diskriminieren will. Warum sollten wir die Ausreise eines Deutschen schärfer beschränken als die Einreise eines Unionsbürgers? Das ist weder mit dem Elfes-Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch mit dem heutigen Rechtsverständnis vereinbar. Der Bundestag hat die Entscheidung über ein Ausreiseverbot de facto einer Vielzahl von Grenzbehörden übertragen und lässt dafür die Gummiformel der «sonstigen Belange» genügen. Er verstößt gegen das verfassungsrechtliche Gebot, die Grenzen einer Freiheitsbegrenzung selbst zu bestimmen und nicht dem Belieben der Verwaltung anheim zu geben. Der Bundestag weiß genau, dass in der grenzpolizeilichen Praxis keine langen Einzelermittlungen oder Überlegungen angestellt werden können und mit der Aufnahme in die so überaus praktische «Gewaltdatei» das Ausreiseverbot praktisch besiegelt ist, ohne dass der Betroffene es vorher erfährt und ohne dass er sich rechtzeitig dagegen
wehren kann.

Der Bundestag wollte, dass die Polizei Hooligans daran hindern kann, die Grenze zu überschreiten. Tatsächlich hat er der Verwaltung ein Instrument in die Hand gedrückt, das zu massivem Missbrauch verleitet hat und unsere verfassungsmäßigen Rechte ebenso verletzt, wie es gegen den Sinn der von uns feierlich verabschiedeten Menschenrechtskonventionen, gegen die europäische Freizügigkeit und gegen die Regeln verstößt, die der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung dazu aufgestellt
hat.

Der Bundestag sollte es nicht zulassen, dass die eigenen Staatsbürger gegenüber europäischen Rechtssätzen diskriminiert werden.

Der Bundestag sollte aufhören, sich in aller Eile Regelungen zur Behebung eines Problems aufschwatzen zu lassen, die gegen Sinn und Geist unserer Verfassung verstoßen. Die Beschränkung der Reisefreiheit war keine denkwürdige Spezialität eines Fußballspiels oder von EU-Gipfeln. Sie kann und wird sich jederzeit wiederholen.

Die notwendigen Regeln sind klar: Es müssen in jedem Einzelfall belegbare Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass es sich bei dem Betroffenen um jemanden handelt, der Gewalt geübt hat und das fortsetzen will. Wenn das Strafverfahren eingestellt, wenn er freigesprochen oder wenn die Eintragung im Bundeszentralregister getilgt wird, dann muss er auch in der Datei gelöscht werden, nicht erst nach fünf Jahren. Er muss von der Eintragung benachrichtigt werden und die Gründe erfahren. Er muss die Möglichkeit haben, die Rechtmäßigkeit nachprüfen zu lassen. Und: Kinder haben in einer solchen Datei absolut nichts zu suchen. Schließlich: Die Datei darf nicht ohne ein veröffentlichtes Dateistatut betrieben werden. Es ist nicht akzeptabel, dass fast ein Jahr lang erst einmal ausprobiert wird, in welchem Umfang man die Reisefreiheit der Bürger einschränken kann. Die verfassungsmäßige Reisefreiheit und die Bürger dieses Landes sind keine Versuchskaninchen. Und ganz zum Schluss sollte einer der Beteiligten einmal in aller Stille darüber nachdenken, was in Genua eigentlich passiert
ist.

Gewalt ist nie gerechtfertigt. Aber der majestätische Leerlauf der großen Gipfel mit ihrem protokollarischen Getöse, gespreizter Wichtigkeit, einschlägiger Hofberichterstattung und albernen Gruppenfotos, diese Kombination der größten Staatsmänner mit dem Ritual eines Betriebsausflugs ist eine Provokation. Er ist der Größe und dem Ernst der politischen, sozialen und menschlichen Probleme unserer Zeit nicht angemessen.