Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Katja Wiesbrock

«Kreuzzug» gegen den Terror. Deutsche Soldaten im Einsatz gegen die Al-Qaida und das Taliban-Regime

Grundrechte-Report 2002, S. 208-213

Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 entschieden: Soldaten der Bundeswehr dürfen an militärischen Einsätzen der Nato «out of area», also auch außerhalb des Bündnisgebietes, teilnehmen. Voraussetzung ist, dass der Bundestag dem Einsatz zuvor zugestimmt hat. Mit ihrem Urteilsspruch haben die Karlsruher Verfassungshüter den außenpolitischen Handlungsspielraum des wieder vereinigten Deutschlands um die militärische Komponente erweitert. Die Bundesrepublik hat nunmehr uneingeschränkt die Option, an Militäreinsätzen der Nato teilzunehmen. Sie kann sich aber auch bewusst gegen ein solches Engagement entscheiden und damit unter Umständen die Bündnispolitik beeinflussen.

 

Die Bundesrepublik ist Teil der internationalen Staatengemeinschaft. Verfassungsrechtlich kommt dies unter anderem in Artikel 25 des Grundgesetzes zum Ausdruck. Danach sind die allgemeinen Regeln des internationalen Rechtes, auch Völker- recht genannt, Bestandteil des Bundesrechtes und gehen den Gesetzen vor. Die Bundesrepublik ist somit verpflichtet, völkerrechtliche Regeln anzuwenden. Dies gilt auch für die Entscheidung, ob deutsche Soldaten an einem Nato-Einsatz teilnehmen sollen.

 

Der amerikanisch geführte Kampfeinsatz «Enduring Freedom » gegen die Al-Qaida und das Taliban-Regime in Afghanistan – von Präsident Bush zunächst als «Kreuzzug » ausgerufen – wirft völkerrechtlich erhebliche Probleme auf. Dementsprechend umstritten war die Frage der Beteiligung deutscher Soldaten im Bundestag. Ausschlaggebend für die positive Entscheidung vom 16. November 2001 war letztlich die von Kanzler Schröder immer wieder beschworene uneingeschränkte Solidarität mit den USA. 100 Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) nehmen jetzt direkt an den Kampfhandlungen teil, bis zu 3800 weitere leisten Hilfe bei der Logistik des Feldzugs und bei der See-Überwachung.

 

Wie aber sieht die Rechtslage aus? Mit der Verankerung des allgemeinen Gewaltverbots in der Charta der Vereinten Nationen hat die internationale Staatengemeinschaft 1945 die Idee, «Kreuzzüge » oder Kriege für eine «gerechte » Sache führen zu dürfen, endgültig aufgegeben. Keine noch so «hehren » Motive können seitdem die Auseinandersetzung mit kriegerischen Mitteln rechtfertigen. Staaten sind völkerrechtlich verpflichtet, in ihren Beziehungen grundsätzlich keinerlei Formen von Gewalt anzuwenden.

 

Eine Ausnahme von diesem Gewaltverbot ist gegeben, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Bedrohung des Weltfriedens feststellt und die Mitgliedsstaaten nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ermächtigt, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. In seiner Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September hat der Sicherheitsrat eine Bedrohung des Weltfriedens festgestellt, eine Ermächtigung zu Zwangsmaßnahmen aber unterlassen.

 

Die Militäranschläge auf Afghanistan werden daher auch von den USA mit der zweiten Ausnahme vom Gewaltverbot, der Selbstverteidigung, gerechtfertigt. Das Recht auf kollektive Selbstverteidigung, in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen verbrieft, gibt Staaten und deren Bündnispartnern in eng begrenzten Fällen das Recht, sich gegen Angriffe auch militärisch zur Wehr zu setzen. Voraussetzungen sind, dass ein bewaffneter gegenwärtiger Angriff vorliegt und dass der Gegenschlag verhältnismäßig ist.

 

Bereits die Terminologie dieser Voraussetzungen zeigt: Das Recht auf Selbstverteidigung ist – wie ursprünglich das gesamte Völkerrecht – auf zwischenstaatliche Konflikte zugeschnitten. Hier haben wir es jedoch mit einem völlig anderen Szenario zu tun: mit der Bedrohung der Sicherheit durch private Akteure. Heute sind es Terroristen oder beispielsweise rivalisierende ethnische Banden, die die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Das Völkerrecht hat sich in vielen Bereichen dieser neuen Bedrohungslage angepasst. Die Entwicklung des Völkerrechts von einem rein zwischenstaatlichen Recht zu einem globalen Ordnungsrecht, das auch private Akteure berechtigt und verpflichtet, stößt aber beim Selbstverteidigungsrecht an konzeptionelle Grenzen.

 

Die erforderliche Gegenwärtigkeit des Angriffs als Voraussetzung des Selbstverteidigungsrechtes wird man bei terroristischen Anschlägen noch annehmen können. Terroristische Aktionen wie die Anschläge vom 11. September sind begleitet von Androhungen weiterer Gewalt. Diese wären ausreichend, um die Angriffe auch bei einem späteren militärischen Gegenschlag noch als gegenwärtig ansehen zu können.

 

Ebenso wenig wirft die Verhältnismäßigkeit der Gegenschläge prinzipielle Probleme auf. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dürfen Maßnahmen erlaubter Selbstverteidigung nicht das zur Abwehr des Angriffs erforderliche Maß überschreiten. Verboten ist damit auch, dass die Waffeneinsätze der Verfolgung anderer Ziele – etwa der Vergeltung – dienen. Schließlich dürfen Ausmaß und Mittel der Verteidigung nicht außer Verhältnis zur Schwere des Angriffs oder zum Verteidigungsnutzen der jeweiligen Aktion stehen. Militärische Kampfeinsätze könnten also als Reaktion auf schwere und verheerende Terroranschläge verhältnismäßig sein.

 

Gefährlich wäre es aber, terroristische Anschläge als bewaffnete Angriffe im Sinne des Selbstverteidigungsrechtes zu qualifizieren. Terroristen agieren nicht in staatsfreien Räumen. Militärische Verteidigungsmaßnahmen gegen «bewaffnete Angriffe» durch Terroristen würden daher immer die Souveränität eines Staates verletzen. Dies wäre aber nur dann gerechtfertigt, wenn dem betroffenen Staat das Handeln der Terroristen zugerechnet werden könnte. Gemäß dem Recht der Staatenverantwortlichkeit wird das Handeln privater Akteure einem Staat zugesprochen, wenn dieser die private Handlung unterstützt hat oder nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten dagegen vorgegangen ist.

 

Die Staatengemeinschaft kennt keine «internationale Staatsanwaltschaft ». In der dezentralisierten Völkerrechtsordnung müsste der angegriffene Staat daher selbst entscheiden, ob bestimmte Staaten Terroristen unterstützen oder es zumindest versäumen, ausreichende Vorkehrungen gegen terroristische Aktivitäten vom eigenen Territorium aus zu treffen. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Nicaragua-Urteil von 1986 entschieden, dass die Entsendung privater bewaffneter Banden einem Staat als «bewaffneter Angriff» zugerechnet werden könne. Bei einem solchen Sachverhalt liegen objektive und für die Staatengemeinschaft nachvollziehbare Anhaltspunkte für eine Zurechnung vor. Dies ist demgegenüber bei Terroranschlägen, auch wenn sie noch so grausam sein mögen, nicht der Fall. Terroranschläge zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie geheim geplant und durchgeführt werden. Eine Zurechnung durch den betroffenen Staat könnte sich daher regelmäßig nur auf vage Indizien stützen, der Willkür wären Tür und Tor geöffnet.

 

Allein der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wäre legitimiert, hier die erforderliche Zurechnung privaten Handelns zum Staat vorzunehmen. Militärische Anti-Terror-Maßnahmen sollten daher von einem Mandat nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen gedeckt sein. Kollektive Sicherheitsbündnisse wie die Nato sind von ureigenen Interessen geleitet. Dass die Nato nach dem 11. September den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrages erklärt hat, ändert somit nichts an dem prinzipiellen Problem der Zurechnung.

 

Anders sieht die Rechtslage bezüglich der Entsendung deutscher Soldaten im Rahmen der internationalen Friedens- oder Schutztruppe nach Afghanistan aus. Die Entscheidung des Bundestages vom 22. Dezember 2001, bis zu 1200 bewaffnete Soldaten für die «International Security Assistance Force» (ISAF) zu stellen, stützt sich auf ein solches «robustes » Mandat des Sicherheitsrates.

 

Seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts von 1994 sind deutsche Soldaten in Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien und nun mittelbar im Kampf gegen die Al-Qaida und demnächst in Afghanistan selbst im Einsatz. Alle Einsätze müssen sich am Völkerrecht messen lassen. Kollektive Sicherheitsbündnisse wie die Nato sind stark und glaubwürdig, wenn sie im Rahmen des geltenden Rechtes agieren. Recht ohne Macht – da scheint uns der zahnlose Papiertiger anzublinzeln. Aber Macht ohne Recht, «Kreuzzüge » – da wären wir wieder im Mittelalter angekommen.