Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Annelie Buntenbach

Genua: Menschenrechte mit Füßen getreten

Grundrechte-Report 2002, S. 198-202

Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden in Europa gegen Bürgerinnen und Bürger, die ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen, hat sich deutlich verschärft. Dies war bei den Demonstrationen anlässlich internationaler Konferenzen zu beobachten. Bei den Protesten anlässlich des EU-Treffens in Göteborg kam es zum Einsatz von Schusswaffen. In Genua wurde der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen. Gravierende Grundrechtsverstöße während und nach diesem G8-Gipfel veranlassten mich dazu, gemeinsam mit dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele am 25. und 26. Juli 2001 nach Genua zu fahren. Mit Unterstützung des deutschen Generalkonsulats in Mailand hatten wir Gelegenheit, deutsche Verletzte und Gefangene in Genua zu besuchen sowie Gespräche mit Zeugen, dem Genueser Social Forum sowie Polizeistellen zu führen. Am 4. und 5. August 2001 habe ich in Genua weitere Gespräche mit Gefangenen, einer Gefängnisdirektorin und Rechtsanwälten geführt. Mein Bericht basiert auf diesen Informationen.

 

Nach Angaben der italienischen Regierung wurden insgesamt 301 Menschen festgenommen. Darunter waren 71 deutsche Staatsangehörige, von denen mehr als 25 stationär behandelt werden mussten, mehrere mit schweren Verletzungen. In 23 Fällen wurde Untersuchungshaft verhängt; die anderen kamen innerhalb von drei Tagen frei und wurden dann abgeschoben. Alle Festnahmen und Polizeizugriffe geschahen nach Ende der Demonstrationen in Genua. Unbestritten ist, dass sie in keinem direkten Zusammenhang mit Auseinandersetzungen oder Gewalttätigkeiten während der Demonstrationen standen. Keinem der Gefangenen wurde von italienischen Behörden der Vorwurf gemacht, selbst an einer konkreten Gewalttat beteiligt gewesen zu sein.

 

In der Nacht zum 22. Juli besetzten Polizeieinheiten die Diaz- Schule in Genua, in der Demonstrantinnen und Demonstranten übernachteten. Nach übereinstimmenden und glaubwürdigen Aussagen von Zeugen und Betroffenen ist von der Schule keinerlei Gewalt ausgegangen, und auch beim Eindringen der Polizei wurde kein Widerstand geleistet. Dennoch wurden die Betroffenen durch Schläge und Tritte zum Teil schwer verletzt. Gleichzeitig mit der Polizei waren Krankenwagen eingetroffen, in die die Verletzten getragen wurden. Alle anwesenden Personen wurden verhaftet. Nach dem Überfall war die Einrichtung stark zerstört, an Boden und Wänden wurden Blutspritzer festgestellt. Einzelne Verletzte waren auf dem Transport ins Krankenhaus weiteren Übergriffen durch die Polizei ausgesetzt. Andere wurden im Krankenhaus ans Bett gefesselt oder standen dort unter Dauerbeobachtung durch Polizeibeamte.

 

Auch andere Festnahmen wurden Stunden oder Tage nach Ende der letzten Demonstrationen durchgeführt. Die Vorwürfe, die zum Erlass von Haftbefehlen führten, bezogen sich auf den Verdacht der Zugehörigkeit zum «Schwarzen Block». Dieser Verdacht soll sich aus dem Auffinden von schwarzen Kleidungsstücken und Gegenständen aus den Autos Betroffener ergeben haben. Dabei handelte es sich um Gegenstände wie Hämmer, Metallstangen oder Messer, wie sie beim Camping oder im Wohnmobil als normale Gebrauchsgegenstände mitgenommen werden. Sie können in meiner Sicht nur dann den Verdacht einer strafbaren Handlung begründen, wenn sie nachweislich auf einer Demonstration mitgeführt werden.

 

Uns wurde berichtet, dass es in den Polizeidienststellen und -gefängnissen sowie in mindestens einer der Haftanstalten zu weiteren Misshandlungen gekommen sei. Inhaftierte wurden bei der Vernehmung geschlagen, mussten teilweise über 15 Stunden an der Wand stehen oder waren 24 Stunden ohne Wasser und Nahrung. Weibliche Inhaftierte hätten ihre Notdurft nur vor den Augen des männlichen Wachpersonals verrichten können. Gefangene mussten Hitlergrüße ertragen; auch faschistische Bilder wurden vorgezeigt. Das sollte vermutlich der Einschüchterung dienen. Bei etlichen der von mir besuchten Gefangenen habe ich selbst noch die Verletzungen gesehen. Mir berichteten drei junge Männer, sie seien nach ihrer Inhaftierung auf den Boden geworfen und vier Stunden durch Schläge und Tritte traktiert worden.

 

Die polizeilichen Protokolle über die Funde in den Fahrzeugen sind zweifelhaft. Unterschriften von Gefangenen unter Pro tokolle – so wurde mir gesagt – seien unter Androhung von Gewalt erzwungen worden. Drei Inhaftierte seien nach ihrer Festnahme mit Knüppeln geschlagen worden. Sie seien gezwungen worden, ein Schriftstück in italienischer Sprache zu unterschreiben, das sie nicht lesen konnten. Danach seien ihnen mit Messern die Haare abgeschnitten worden. Auch andere berichteten, sie hätten nur unterschrieben, weil ihnen mit Gewalt gedroht worden sei. Sie gaben an, einige der ihnen im Protokoll zugeschriebenen Gegenstände zuvor nie gesehen zu haben.

 

Inhaftierte wurden von der Polizei nicht über den Grund der Festnahme aufgeklärt und hatten keine Möglichkeit, umgehend Kontakt zu einem Anwalt und zu Angehörigen aufzunehmen. In etlichen Fällen wurden die Betroffenen nicht über ihr Recht auf konsularischen Schutz belehrt, teilweise ist die konsularische Vertretung nicht unterrichtet worden. Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen bei polizeilichen Vernehmungen und der Vorführung vor dem Richter keine kompetenten Dolmetscher anwesend waren; auch mit ihren Anwälten und anderen Verfahrensbeteiligten hätten sich Betroffene teilweise nicht verständigen können.

 

Erst nach Tagen und nachdem die Öffentlichkeit auf die Misshandlungen und Rechtsverstöße aufmerksam geworden war, normalisierten sich die Haftbedingungen. Gleichwohl wurden zehn Gefangene mit deutscher Staatsangehörigkeit erst nach sechs Wochen, weitere fünf erst nach elf Wochen (also Anfang Oktober) freigelassen. Die Freilassung der letzten fünf Gefangenen wurde von einer Richterin zunächst mit der Begründung einer Wiederholungsgefahr bei anderen internationalen Konferenzen in Italien abgelehnt.

 

Nach der Freilassung wurden die Gefangenen, auch wenn gegen sie keinerlei Strafvorwurf bestand, abgeschoben und gegen sie zunächst ein generelles fünfjähriges Einreiseverbot verhängt. Dieses wurde später aufgehoben. Die italienischen Behörden halten durch die Auflage einer Genehmigung vor der Wiedereinreise jedoch weiterhin an einer Einschränkung der Freizügigkeit fest.

 

Die Inhaftierung und Misshandlung von Demonstranten gegen den G8-Gipfel in Genua und die Verweigerung international anerkannter Rechte ist in meiner Sicht im Rahmen der politischen Machtverhältnisse in Italien zu sehen. Die «Forza Italia» als tragende Partei der Regierung kann kaum demokratisch genannt werden. Sie koaliert mit zwei Parteien, die eindeutig der extremen Rechten angehören. Bereits im Vorfeld des G8-Gipfels war eine Politik der Spannung betrieben worden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Ereignisse nach den Demonstrationen auch der Abschreckung der italienischen Opposition dienen sollten und all jener, die sich im «linken Spektrum» engagieren. In einer solchen Konstellation ist es aus meiner Sicht nicht zu verantworten, dass Daten aus der ohnehin problematischen Datei «Gewalttäter links» an italienische Stellen übermittelt werden.