Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Michael Stoffels

Die «Residenzpflicht» – eine rassistische Auflage für Ausländer

Grundrechte-Report 2002, S. 159-163

Kaum glaublich, aber in Deutschland kann strafrechtlich belangt werden, wer seine in einer anderen Stadt lebenden Freunde besucht. So wurde ein Familienvater aus letztlich eben diesem Grund in Duisburg zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Verurteilt wurde er, weil der Besuch von Freunden als «wiederholte Zuwiderhandlung gegen eine Aufenthaltsbeschränkung in 4 Fällen» gewertet wurde. Dieses Urteil wurde im April 2001 nun auch von dem Berufungsgericht bestätigt. Hätte der Angeklagte beispielsweise «nur » einen anderen niedergeschlagen und hätte dann einen Stuhl gegen Hals und Gesicht seines Opfers gestoßen, sodass dieses seine Sehfähigkeit auf einem Auge fast völlig verloren hätte, dann, ja dann hätte er nur eine Gefängnisstrafe von einem halben Jahr zu gewärtigen gehabt – so das Urteil des gleichen Richters zur gleichen Zeit am gleichen Amtsgericht Duisburg in einem anderen Fall.

 

Zugegeben ist: Im ersten Fall war der Verurteilte bereits zuvor einschlägig wegen Verstoßes gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung, die so genannte Residenzpflicht, auffällig geworden. Doch das entscheidende Faktum ist ein anderes: Der sich da schuldig gemacht hat, ist nicht Inländer, sondern Ausländer, ist nicht Deutscher, sondern ausländischer Flüchtling, in diesem Fall aus dem Kongo. Als ausländischer Flüchtling aber ist man – und zwar durch Gesetz – in seinen Rechten eingeschränkt, auch in solchen, die wir zu den Grundrechten unserer Verfassung zählen wie die Freizügigkeit.

 

Dabei können die Konsequenzen für den Flüchtling, der solches – im Grundgesetz vorsorglich Deutschen vorbehaltene – Grundrecht für sich in Anspruch nimmt, noch weiter gehend sein als eine Gefängnisstrafe. Diese bittere Erfahrung machte in meinem Heimatort der Kurde Abdul S. Er war vor zehn Jahren mehrmals die 30 Kilometer von Neuss nach Köln zu kurdischen Treffen gefahren und deswegen zu einer Gesamtstrafe von 120 Tagessätzen – das waren in seinem Fall 1200 DM – verurteilt worden. Im Dezember 2000 wurde er dann abgeschoben, obwohl er nach elf Jahren Aufenthalt in Deutschland einen Anspruch auf eine Aufenthaltsbefugnis gehabt hätte. Grund der Abschiebung: Straffälligkeit wegen des Verstoßes gegen die Auflage der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung.

 

Wie nur kann es zu einer für die Betroffenen so folgenschweren Einschränkung eines Grundrechts kommen? Sind bürokratische Notwendigkeiten verantwortlich zu machen? Eine im Stadtarchiv Neuss von mir aufgefundene Polizeiliste führt auf eine andere Spur und lässt an Schlimmeres denken. Auf dieser aus dem Jahr 1944 stammenden Polizeiliste nämlich findet sich eine Aufzählung mit Namen von polnischen und russischen Zwangsarbeitern, die mit einem Bußgeld von 15 oder 20 Reichsmark belegt wurden, weil sie im Stadtgebiet Neuss angetroffen worden waren, «ohne im Besitz einer schriftlichen Genehmigung ihrer zuständigen örtlichen Polizeibehörde zu sein, wonach sie berechtigt waren, ihren Wohnort zu verlassen». Die «Residenzpflicht » – ein Beleg für eine unselige historische Tradition? Immerhin galt die faschistische Ausländerpolizeiverordnung (APVO) von 1938 faktisch bis 1965, als ein neues Ausländerrecht in Kraft trat. Da mag es kaum verwundern, dass sich auch in neueren ausländerrechtlichen Gesetzestexten und Erlassen Formulierungen finden, die denen von 1938 verdächtig

ähneln.

 

Ob in dem 1982 beschlossenen Asylverfahrensgesetz beispielsweise verfügt wird: «Ausländer, die einen Asylantrag gestellt haben, ist der Aufenthalt . . . beschränkt auf den Bezirk der Ausländerbehörde gestattet» ( § 20 Abs. 1) oder ob es in der Ausländerpolizeiverordnung von 1938 (hier in der Fassung von 1939) heißt: «Beantragt der Ausländer die Aufenthaltserlaubnis, . . . so gilt sein Aufenthalt im Bereich der Kreispolizeibehörde, bei der der Antrag gestellt ist, als erlaubt» ( § 2 Abs. 2) – wer will da noch substanzielle Unterschiede ausmachen?

 

Denken wir in diesem Zusammenhang auch zurück an den zu einer Gefängnisstrafe verurteilten kongolesischen Flüchtling. Grundlage seiner Verurteilung war § 85 des geltenden Asylverfahrensgesetzes. Dort heißt es nämlich: «Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer . . . wiederholt einer Aufenthaltsbeschränkung . . . zuwiderhandelt.» Kann es Zufall sein, wenn die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 eine Zuwiderhandlung gegen eine auferlegte räumliche Beschränkung mit exakt der gleichen Strafe bedroht? Wer sich nämlich damals schuldig machte – so die fast gleich lautende Formulierung des § 13 Absatz 2 APVO – «wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe oder einer dieser Strafen bestraft».

 

Die Auflage einer räumlichen Aufenthaltsbeschränkung, so behaupte ich, gehört zu jenem Traditionszusammenhang administrativer Diskriminierung von Ausländern, wie er sich im ver gangenen Jahrhundert durch ein Wechselspiel von öffentlichem Rassismus und restriktiver Ausländerpolitik herausgebildet hat. Nicht verschwiegen werden soll jedoch, dass es gewichtige Stimmen gibt, die dies anders sehen. Da wäre etwa das Innenministerium in NRW zu nennen, das – anlässlich eines Protestes gegen die erwähnte Abschiebung des Kurden Abdul S. auf die historischen Kontinuitäten hingewiesen – kurzerhand den «Vergleich der so genannten Residenzpflicht . . . mit rassistischen Auflagen in der NS-Zeit . . . für absolut überzogen und fehl am Platz» deklarierte. «Hierzu », gibt sich der zuständige Ministeriale in einem Schreiben ebenso entschieden wie empört, «werde ich mich nicht weiter äußern.»

 

Die «Residenzpflicht » hat aber nicht nur eine zweifelhafte Vergangenheit, sie hat auch Zukunft. Eine Umsetzung des im Jahr 2001 vorgelegten Vorschlags des Europäischen Rates über «Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern» lässt keineswegs erwarten, dass die Auflage der räumlichen Beschränkung in Deutschland endlich auf den Müll einer unseligen rassistischen Geschichte geworfen wird. Denn in Artikel 7 Absatz 1 des Ratsvorschlags heißt es: «Nach Maßgabe dieses Artikels gewähren die Mitgliedsstaaten Asylbewerbern und den sie begleitenden Familienangehörigen ein individuelles Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb ihres Hoheitsgebiets oder eines zugewiesenen Aufenthaltsbereichs.» Im Klartext: Die räumliche Beschränkung des Aufenthalts, wie sie das deutsche Asylverfahrensgesetz für Asylbewerber verfügt, wird als rechtens abgesegnet; der Grundsatz der Bewegungsfreiheit ist pure Makulatur. Es ist sicherlich nicht falsch zu vermuten, dass gerade die Deutschen maßgeblich die restriktive Formulierung des genannten Artikels 7 beeinflusst haben. In der den Mindestnormen beigefügten Begründung heißt es nämlich interessanterweise: «Die Bewegungsfreiheit gehörte zu den Fragen, bei denen im Rat . . . nur schwer eine Einigung erzielt werden konnte.» Die Vermutung eines besonderen deutschen Einflusses liegt schon deswegen nahe, weil in Innenminister Schilys Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz die «Residenzpflicht » nicht etwa zurückgenommen oder doch wenigstens entschärft wird. Ganz im Gegenteil: Sie wird verschärft, nämlich ausgedehnt auf «vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer». Und was das Zuwanderungsgesetz nicht leistet, werden die Sicherheitspakete schon richten. In Zeiten des propagierten «Kampfes gegen den Terror » haben auf Kontrolle ausgerichtete Maßnahmen Hochkonjunktur. Der ins Auge gefasste Überwachungsstaat wird vor allem ein solcher für ausländische Flüchtlinge sein – «Residenzpflicht» inklusive.