Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Martin Kutscha

Demonstrationsfreiheit – auch für Neonazis?

Grundrechte-Report 2002, S. 130-136

Skins und Neonazis, martialisch ausstaffiert, die Reichskriegsflagge und andere Insignien der Ewiggestrigen schwenkend, unter dem Brandenburger Tor – wahrlich kein erhebender Anblick und kein schönes Aushängeschild für die Bundeshauptstadt! Es ist nur zu verständlich, dass Politiker und Spitzenbeamte solche abschreckenden Aufmärsche gerne verhindern oder wenigstens in städtische Randbereiche abseits der medialen und touristischen Aufmerksamkeit verbannen wollen. Immerhin erlaubt das Versammlungsgesetz der jeweils zuständigen Behörde, Versammlungen und «Aufzüge », also Demonstrationen, zu verbieten, «wenn die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist».

 

Ein Streit zwischen Münster und Karlsruhe

 

Auf der Grundlage dieser Bestimmung sind denn auch im Jahr 2001 mehrere Aufmärsche neonazistischer Organisationen verboten worden, so Kundgebungen der NPD am 1. Mai, ein Protestmarsch von Neonazis über die deutsch-niederländische Grenze sowie ein «nationaler Ostermarsch» in Hagen. Teilweise sind diese Verbote von den Verwaltungsgerichten bestätigt worden. So erblickte das Oberverwaltungsgericht Münster in dem von deutschen Neonazis geplanten Protestmarsch über die niederländische Grenze eine «unmittelbare Gefährdung der öf fentlichen Ordnung». Mit der Konzeption des Grundgesetzes, so das Gericht in seinem Beschluss vom 23. März 2001, «sind nazistische Grundgedanken von vornherein unvereinbar. Eine Ideologie, die auf Rassismus, Kollektivismus und dem Prinzip von Führung und unbedingtem Gehorsam aufbaut», lasse sich unter dem Grundgesetz nicht legitimieren.

 

Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Auffassung des Oberverwaltungsgerichts entgegengetreten: Die Meinungsfreiheit, so betonte es in seinem Beschluss vom 24. März 2001, sei für die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes schlechthin konstituierend. «Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen . . . Die Bürger sind daher auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung infrage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden. Die plurale Demokratie des Grundgesetzes vertraut auf die Fähigkeit der Gesamtheit der Bürger, sich mit Kritik an der Verfassung auseinander zu setzen und sie dadurch abzuwehren». Die einschlägigen Straftatbestände, so das Bundesverfassungsgericht weiter, enthielten abschließende Regelungen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Wo die Schwelle der Strafbarkeit noch nicht erreicht ist, darf danach eine Demonstration nicht allein wegen des Inhalts der erwarteten Meinungsäußerungen verboten werden.

 

Kontroverse Auffassungen zeigten sich auch bei der rechtlichen Beurteilung von Demonstrationen, die die NPD veranstalten wollte. Das Oberwaltungsgericht Münster bestätigte das Verbot einer Demonstration, die von der NPD am 1. Mai 2001 in Essen geplant war. Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, argumentierte das Gericht in seinem Beschluss vom 30. April 2001, «sind nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschten Anschauungen, sondern solche, die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unverein bar sind. Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang, der geeignet ist, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, auch jenseits verfassungsrechtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen nach Art. 21 Abs. 2, 18 Satz 2 GG inhaltlich zu begrenzen».

 

Wiederum bezog das Bundesverfassungsgericht die Gegenposition: Das Oberverwaltungsgericht habe die Sperrwirkung des Parteienprivilegs der Verfassung verkannt. Nach Art. 21 Abs. 2 GG kommt in der Tat dem Bundesverfassungsgericht das Entscheidungsmonopol über die Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei zu. Daraus folgerte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 1. Mai 2001, dass vor einem solchen höchstrichterlichen Verbot ein administratives Einschreiten gegen den Bestand der Partei ausgeschlossen sei. «Ein Versammlungsverbot kann daher nicht auf die Annahme gestützt werden, dass die von der NPD typischerweise vertretenen Inhalte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechen.» Auch wenn die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Münster politisch verständlich ist – dem Bundesverfassungsgericht ist beizupflichten, dass die juristische Auseinandersetzung mit dem Neonazismus nicht jenseits der vom Grundgesetz genau vorgezeichneten Bahnen geführt werden darf.

 

Demonstrationsverbote wegen «Gefährdung der öffentlichen Ordnung»?

 

Mit seiner aktuellen Rechtsprechung knüpft das Bundesverfassungsgericht an eine liberale Tradition an, die es mit seinem wegweisenden Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985 zur Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG, begründete. Damals betonte es, dass Verbote und Auflösungen von Demonstrationen «im Wesentlichen nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter in Betracht kommen», während eine bloße «Gefährdung der öffentlichen Ordnung» im Allgemeinen nicht genüge. Von diesem Grundsatz ließ das Gericht 2001 eine spektakuläre Ausnahme zu:

 

Der bekannte Neonazi Christian Worch hatte just für den 27. Januar 2001, den Gedenktag für die Opfer des NS-Regimes, eine Kundgebung mit Aufzug angemeldet. Ihm wurde daraufhin die Auflage erteilt, dass wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung beides erst einen Tag später stattfinden dürfe. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Rechtmäßigkeit dieser Anordnung am 26. Januar 2001. «Die öffentliche Ordnung», so das Gericht, «scheidet jedenfalls nicht grundsätzlich als Schutzgut für eine Einschränkung des Versammlungsrechts unterhalb der Schwelle eines Versammlungsverbots aus. Die öffentliche Ordnung kann betroffen sein, wenn einem bestimmten Tag ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei der Durchführung eines Aufzugs an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden.»

 

Wegen der Provokationswirkung eines Neonazi-Aufmarsches gerade am Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz ist diese Position gut nachvollziehbar. Auf der anderen Seite aber wird die «öffentliche Ordnung» gerade als Inbegriff der ungeschriebenen, also gesetzlich nicht fixierten Verhaltensregeln verstanden. Mit der Verwendung dieses problematischen polizeirechtlichen Begriffs zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit könnte mithin auch anderen, in den Augen der Mehrheit anstößigen Auffassungen der grundrechtliche Schutz entzogen werden. Es könnte zum Beispiel eine Demonstration unter dem Motto «Solidarität mit dem Volk von Afghanistan» wegen ihrer die Kriegsbereitschaft beeinträchtigenden Aussage als «Gefährdung der öffentlichen Ordnung» gewertet werden. Die Funktion der Grundrechte besteht aber gerade darin, die Artikulationsmöglichkeiten von – möglicherweise missliebigen – Minderheiten zu gewährleisten.

 

Verschärfung des Versammlungsgesetzes?

 

Die Bundesländer Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern sowie die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion legten 2001 Gesetzentwürfe zur Verschärfung des Versammlungsgesetzes vor. Bürgerrechtliche Bedenken ergeben sich vor allem gegen die Vorschläge der CDU/CSU. Danach sollen Versammlungen oder Demonstrationen künftig auch dann verboten werden, wenn «erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere außenpolitische Interessen oder völkerrechtliche Verpflichtungen » beeinträchtigt werden und dadurch einer der Verfassungsgrundsätze missachtet wird. In der Sachverständigenanhörung im Innenausschuss des Bundestages am 16. Mai 2001 stießen dieser sowie die anderen Verschärfungsvorschläge auf breite Ablehnung. Kritisiert wurde zu Recht, dass außenpolitische Interessen und andere Belange politischer Art gerade keine «elementaren Rechtsgüter» sind, sondern jeweils unterschied lich durch die politische Willensbildung definiert werden. In der Tat würde eine solche Erweiterung des Verbotstatbestandes, wie sie der CDU/CSU vorschwebt, eine Art politischer Inhaltskontrolle von Demonstrationen und Kundgebungen ermöglichen, was gerade dem Charakter des Grundrechts der Versammlungsfreiheit widersprechen würde.

 

Auf scharfe Kritik stieß auch der Versuch, «grundrechtsfreie Zonen» zu schaffen (vgl. dazu auch schon Wolfgang Wieland im Grundrechte-Report 2001, S. 93ff.). Nach dem Gesetzentwurf von CDU/CSU sollten Bund und Länder ermächtigt werden, «für ihre öffentlichen Einrichtungen oder Örtlichkeiten, die von herausragender nationaler und historischer Bedeutung sind, durch Gesetz befriedete Bezirke zu bestimmen». Um Neonaziprovokationen zum Beispiel am Holocaust-Mahnmal verhindern zu können, ist eine solche Regelung keineswegs notwendig. Hierzu reicht das geltende Versammlungsrecht aus, weil in diesem Fall die Menschenwürde der jüdischen Bevölkerung verletzt und damit eine «unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit» bestehen würde. Mit der generellen Einführung von «befriedeten Bezirken» aber würde das (auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannte) Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter über den Ort einer Versammlung massiv eingeschränkt werden. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit garantiert dem Volk als Souverän gerade auch das Recht, an Orten von symbolischer Bedeutung seine Forderungen oder seinen Protest zum Ausdruck zu bringen.

 

Bei der Verwirklichung dieser Vorschläge würde das deutsche Versammlungsrecht wieder die vormundschaftlichen Züge erhalten, die es in den Epochen eines autoritären Staatsverständnisses prägten. Die juristische Bekämpfung des Neonazismus darf aber gerade nicht in der Weise erfolgen, dass ein für die demokratische Willensbildung elementares Grundrecht für alle Bürgerinnen und Bürger eingeschränkt wird. Die demokratische Verfassungsordnung kann nicht durch Amputation ihrer selbst verteidigt werden.

 

Literatur

 

Helmut Wolf, Ein «schärferes » Versammlungsrecht? Bürgerrechte & Polizei/CILIP 68 (1 /2001), S. 50ff.

Martin Kutscha, Ist das Versammlungsrecht noch zeitgemäß? Neue Justiz 7/2001, S. 346ff.