Grundrechte-Report 2002

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Jens Neubert, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutscha
Redaktion: Katharina Ahrendts, Ulrich Finckh, Jens Neubert, Constanze Oehlrich, Marei Pelzer, Bela Rogalla, Jürgen Seifert, Stefan Soost, Eckart Spoo und Elke Steven
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2002, ISBN 3-499-23058-5, 271 Seiten, 9.90 €

 

Norman Paech

Alle Krisen sind im Vertrag inbegriffen. Das Bundesverfassungsgericht unter der Nato-Flagge

Grundrechte-Report 2002, S. 214-218

Am 22. November 2001 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil, mit dem es die Organklage der PDS-Fraktion im Bundestag gegen die Bundesregierung abwies. Im Streit war die neue Nato-Strategie gewesen, die die Staats- und Regierungschefs am 24. April 1999 verabschiedet hatten und mit der sie die Nato von einem Verteidigungsbündnis in ein weltweit operierendes Interventionsinstrument umgewandelt hatten. Von nun an sollen neben die militärische Verteidigung des Bündnisgebietes gemäß Art. 5 Nato-Vertrag auch so genannte Krisenreaktionseinsätze weit über das Bündnisgebiet hinaus in Regionen mit zunehmenden Risiken für «euroatlantischen Frieden und Stabilität . . . einschließlich der Unterdrückung, ethnischer Konflikte, wirtschaftlicher Not, des Zusammenbruchs politi- scher Ordnungen sowie der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen » (Ziffer 3 Nato-Strategie) zu den Aufgaben der Nato gehören. Die Weite des Krisenszenarios umfasst praktisch alle modernen Erscheinungsformen der Instabilität, Desorganisation und Gewalt in den außereuropäischen Regionen wie «Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen» (Ziffer 24). In all diesen Fällen soll die Nato in Zukunft intervenieren können, mit oder ohne Uno-Mandat wie im

Kosovo-Krieg.

 

Die PDS sah darin eine substanzielle Veränderung des Nato- Vertrages, die ohne eine Mitwirkung des Parlaments nach Art. 59 Abs. 2 GG nicht vorgenommen werden dürfe. Sie verklagte die Bundesregierung wegen «Missachtung des Parlaments» und forderte einen ausdrücklichen Beschluss des Bundestages. Doch das Bundesverfassungsgericht folgte der Bundesregierung und ersparte Rot-Grün den erneuten Weg durch das Fegefeuer. Es entschied, dass es sich bei der neuen Nato-Strategie nicht um eine Veränderung des Nato-Vertrages, sondern nur um eine unverbindliche Fortentwicklung handele, welche der parlamentarischen Mitwirkung nicht bedürfe.

 

Das Gericht konnte bei den Nato-Staaten keinen Willen feststellen, den Vertrag förmlich abzuändern, es fehle zum Beispiel eine Klausel, die eine Ratifikation vorsehe. Richtig ist, dass die Staats- und Regierungschefs ihre Parlamente mit der Sache nicht behelligen wollten, weil sie sich nicht sicher waren, ob diese problemlos einer derart grundsätzlichen Erweiterung der Nato- Aufgaben zustimmen würden. Diese Entscheidung wollte die PDS-Fraktion jedoch nicht der Regierung überlassen, sondern hoffte auf das Gericht, um dem Bundestag seine Mitwirkungsrechte zu verschaffen. Es war allerdings mehr als ein Schönheitsfehler, dass die übergroße Mehrheit des Bundestages – von der CSU bis zu Bündnis 90/ Die Grünen – an einer solchen Mitwirkung überhaupt nicht interessiert war. Der Bundestag trat sogar dem Verfahren auf der Seite der Bundesregierung bei. Wie schwer sich das Gericht mit der neuen Funktion der Nato tat, zeigen die Haken, die es schlagen musste, wenn es einerseits feststellt: «Eine bedeutsame, im Vertrag nicht implizierte Erweiterung der Aufgabenstellung findet sich allerdings in der Möglichkeit so genannter Kriseneinsätze» (S. 68 Urteilsausfertigung), andererseits aber befindet, dass die «Erweiterung des sicherheitspolitischen Ansatzes des Bündnisses auf Krisenreaktionseinsätze » lediglich «eine Fortentwicklung des Nato-Vertrags (sei), die sich jedenfalls nicht mit der für die Annahme eines konkludenten Vertragsveränderungswillens nötigen Gewissheit als Widerspruch zum bestehenden Vertragsinhalt oder als dessen Erweiterung deuten lässt . . . Die getroffenen Inhaltsbestimmungen lassen sich noch als Fortentwicklung und Konkretisierung der offen formulierten Bestimmungen des Nato- Vertrages verstehen» (S. 67, 70). Demnach könnte zum Beispiel auch ein Bordellbesuch «noch als Fortentwicklung und Konkretisierung der offen formulierten Bestimmungen» der Eheschließung verstanden werden; der Ehemann müsste nur ausdrücklich erklären, dass «‹ Zweck› und ‹Wesen› des Bündnisses unverändert bleiben» (S. 71).

 

Die bemerkenswerte Regierungsfreundlichkeit des Gerichts aus Gründen der «Funktionsgerechtigkeit » im außenpolitischen Bereich (S. 73) fällt leider auch hinter das Votum der vier abweichenden Mitglieder des Senats in seiner «Out-ofarea »-Entscheidung vom 12. Juni 1994 zurück (BVerfGE 90, S. 268, 374). Sie hatten bereits damals, als die Entwicklung des Strategiekonzepts noch nicht vollständig abgeschlossen war, die Zustimmung des Parlaments gemäß Art. 59 Abs. 2 GG auch dann gefordert, wenn sich eine inhaltliche Fortschreibung der vertraglichen Pflichten durch entsprechende zwischenstaatliche Vereinbarungen nicht eindeutig als Vertrag qualifizieren lasse, sie jedoch die Mitwirkungsrechte des Parlaments zu unterlaufen drohe, da der Vertrag damit gleichsam auf Räder gesetzt würde. Zum Ausgleich der erheblichen Stärkung des Gewichts der Regierung in der Außenpolitik hält das Gericht aber auch eine durchaus zukunftsweisende Perspektive für das Parlament bereit – wenn es denn will. Es verweist noch einmal ausdrücklich auf seine Entscheidung von 1994, «dass jeder Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Nato sowohl zur kollektiven Verteidigung als auch zur Krisenreaktion von der Zustimmung des Bundestages abhängig ist» (S. 75), und weist das Parlament zusätzlich auf seine Kompetenz hin, das neue strategische Konzept durch einfachen Beschluss verändern und dadurch «auf das Verhalten der Bundesregierung im Organsystem der Nato politischen Einfluss » nehmen zu können. Wichtig ist die Bestätigung einer Kontroll- und Entscheidungskompetenz, die dem Parlament nachträglich das ermöglicht, was ihm das Gericht bei der Beschlussfassung im April 1999 vorenthalten hat: eine substanzielle Mitwirkung bei der Bestimmung zukünftiger Aktivitäten im Rahmen der Nato.

 

Und das Gericht verweist noch auf andere Bedingungen, die in Zukunft vom Bundestag genau beachtet werden müssen: das zwingende Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UN-Charta und «die anerkannten Voraussetzungen für den Einsatz militärischer Macht, die von der Mandatierung von Staaten (Art. 42i.V.m. Art. 48 UN-Charta) bzw. Regionalorganisationen (Art. 53 UNCharta) durch die Vereinten Nationen über die kollektive Verteidigung auch dritter Staaten bis zum Eingreifen auf Einladung reichen, sowie die Proportionalität solchen Handelns» (S. 81). Hält sich der Bundestag an diesen Satz, so könnte sich ein Einsatz der Bundeswehr wie gegen Jugoslawien nicht wiederholen. Er müsste auch für den möglichen Einsatz in Somalia, im Irak und wo auch immer noch eine neue verfassungsrechtliche Grundlage schaffen, die sich nicht auf seinen weit gefassten Beschluss vom 16. November 2001 stützen könnte. Denn der auf beliebige Länder erweiterbare Terrorismusverdacht taugt nicht dazu, für die nächsten Jahre gegenüber immer neuen Staaten die «kollektive Verteidigung» der USA gemäß Art. 51 UNO-Charta als völkerrechtliche Ausnahme vom zwingenden Gewaltverbot zu strapazieren. Doch ob sich der Bundestag in dieser Weise in die geostrategischen Ambitionen der Bundesregierung einschalten will, ist angesichts der gegenwärtigen Stimmenverhältnisse zweifelhaft.

 

Literatur

 

Aktenzeichen 2 BvE 6/99v. 22. November 2001. Vgl. N. Paech, Die Nato-Strategie vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1 / 2002, S. 34 ff.