Grundrechte-Report 1998

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr, Marei Pelzer
Redaktion: Paul Ciupke, Norbert Reichling, Jürgen Seifert, Stefan Soost und Eckart Spoo
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 1998, ISBN 3-499-22337-6, 320 Seiten, 14.90 DM
 

Michael Maier-Borst

Mutmaßliche Übergriffe von Polizeibeamten - kein Thema!

Grundrechte-Report 1998, S. 50-55

Der amnesty-international-Bericht "Neue Fälle - altes Muster" vom Juli 1997 (ai-Index EUR 23/04/97) über polizeiliche Mißhandlungen betont unter Bezugnahme auf Auszüge aus offiziellen Antworten bundesdeutscher Stellen, daß ai weiterhin mit der Behandlung vieler ihrer Anliegen durch deutsche Stellen nicht zufrieden ist. Der Bericht macht gleich zu Beginn sehr deutlich, daß die Feststellungen, für die ai ja in der Öffentlichkeit hart angegriffen wird, langsam von anderen relevanten Organisationen oder Gremien aufgenommen bzw. betätigt worden sind. Die Studie "Polizei und Fremde" (Polizeiführungsakademie Münster-Hiltrup), der Hamburger Bürgerschaftsausschuß, der sich mit dem dortigen Polizeiskandal befaßte, der Menschenrechtsausschuß der UN, der UN-Sonderberichterstatter zu Folter und - nach der Veröffentlichung des ai-Berichtes vom Juli 1997 - das Anti-Folterkomitee des Europarates haben teilweise dieselben Fälle aufgegriffen bzw. gaben ähnliche Empfehlungen ab. ai fordert vor diesem Hintergrund explizit, daß Bund und Länder "zusätzliche dauerhafte und unabhängige Einrichtungen" etablieren sollen, die

umfassende und einheitliche Statistiken über den Umfang von Übergriffen vorhalten, inklusive der Ergebnisse strafrechtlicher oder disziplinarischer Verfahren etc.,

eigene Nachforschungen anstellen und Empfehlungen über strafrechtliche und/oder disziplinarische Maßnahmen gegen die beschuldigten Polizisten geben dürfen sowie Entschädigungsfragen klären und

Einschätzungen über die Wirksamkeit der von der Polizei ergriffenen Maßnahmen abgeben, die Übergriffe verhindern können.

Wie in den ai-Berichten der letzten Jahre geht es um die mutmaßlichen Opfer von Menschenrechtsverletzungen und um verbindlich eingegangene rechtliche Verpflichtungen staatlicher Stellen, die zu erfüllen sind und mutmaßlich nicht erfüllt werden. Das Konzept und die Methode sind so schlicht wie effektiv: ai wertet Akten aus, spricht - soweit möglich - mit den mutmaßlichen Opfern, Rechtsanwälten bzw. Zeugen und zieht ärztliche Atteste bei. Danach werden Fragen oder Forderungen formuliert und an die zuständigen staatlichen Stellen versandt. Immer wieder wird der Stand der Verfahren dann dokumentiert.

Die zahllosen Attacken gegen ai, die besonders eine Einseitigkeit der Darstellung der Mißhandlungsvorwürfe feststellen wollten, zeigen vor allem mangelnde Kenntnis über die Arbeit und die Anliegen von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen. ai weiß selbstverständlich nicht, wie sich ein Vorgang tatsächlich abgespielt hat. Dies kann nicht das Ziel sein. ai signalisiert in den einzelnen Fällen lediglich Klärungsbedarf gegenüber den verantwortlichen Stellen und macht Verbesserungsvorschläge. Daß dies sinnvoll ist, wird in letzter Zeit sowohl in Hessen als auch in Hamburg gesehen (Die Welt v. 26. 4. 1997; Berliner Zeitung v. 3. 11. 1997).

Immerhin hatte ai bereits in ihrem Bericht vom Mai 1995 "Ausländer als Opfer: Polizeiliche Mißhandlungen in der Bundesrepublik Deutschland" (ai-Index EUR 23/06/95) für die Zeit von Januar 1992 bis März 1995 70 Fälle dokumentiert, bei denen deutsche Polizeibeamte in der Ausübung ihres Dienstes

in "unverhältnismäßiger und ungerechtfertigter Weise Gewalt angewandt" bzw.

"in Gewahrsam befindliche Personen grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen" haben sollen.

Die meisten mutmaßlichen Mißhandlungen sowie der behördliche Umgang mit den Vorwürfen würden sich einem "Muster" zuordnen lassen. Dieses "Muster" bestehe für ai darin, daß:

1. die mutmaßlichen Opfer meistens Ausländer oder Angehörige ethnischer Minderheiten sind, die von den Polizeibeamten oft auch mit fremdenfeindlichen Ausdrücken beschimpft werden,

2. die in Rede stehenden mutmaßlichen Mißhandlungen schon während oder kurz nach der Festnahme erfolgen,

3. die mutmaßlichen Opfer selten sofort umfassend über den Grund für ihre Festnahme und ihre Rechte unterrichtet werden sowie meist keine Möglichkeit erhalten, einen Rechtsbeistand oder Familienangehörigen zu unterrichten,

4. die erhobenen Beschwerden oder Anzeigen der mutmaßlichen Opfer wegen Mißhandlungen durch Polizeibeamte häufig mit einer Gegenanzeige (Widerstand gegen die Vollstreckungsbeamten) der beschuldigten Beamten beantwortet werden und schließlich

5. viele Verfahren spätestens von der Staatsanwaltschaft nach oft sehr langer Zeit unter Hinweis auf sich widersprechende Aussagen der mutmaßlichen Opfer und der Polizeibeamten mangels hinreichenden Tatverdachtes gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden und deshalb selten von unabhängigen Gerichten überprüft werden - oft liegen solchen Einstellungen unzureichende, teilweise sogar parteiische Ermittlungen zugrunde.

Nach der Aufforderung, genauer zu ermitteln und Mißhandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte künftig häufiger durch unabhängige Gerichte zu überprüfen, schloß der ai-Bericht damals mit einer Reihe von weiteren Empfehlungen an die Innenminister und -senatoren, die den Mißständen mit Blick auf einzelne Elemente des festgestellten "Musters" entgegenwirken könnten und die auch im Juli-Bericht aufrechterhalten werden. Die ai-Berichte verfolgen also deutlich zwei Stoßrichtungen:

Sie wollen die Aufmerksamkeit der politisch Verantwortlichen und der Öffentlichkeit auf die mutmaßlichen Übergriffe von deutschen Polizeibeamten lenken (Forderungen nach statistischer Erfassung der Mißhandlungsvorwürfe und der jeweiligen Verfahrensausgänge etc.).

Sie betonen, daß in vielen Fällen Mißhandlungsvorwürfe in unzureichender Weise bearbeitet werden. Damit geraten insbesondere die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaften) in den Blickpunkt der Kritik von ai.

In Anschluß an die in Berlin tagende Innenministerkonferenz hatte deren Vorsitzender, Alwin Ziel, wie schon im November 1994, die bundesdeutschen Polizeibeamten verteidigt. Er betonte erneut den Einzelfallcharakter der Vorfälle, verwies auf die oft laufenden behördeninternen Ermittlungen oder gerichtlichen Verfahren und gab zu bedenken, "daß durch die Vorwürfe von amnesty international die Gefahr besteht, daß die Bundesrepublik auf eine Stufe mit Ländern gestellt wird, in denen Folter angewandt wird" (Pressemitteilung v. 19. 5. 1995).

Ziels Befürchtung ist unangemessen, vielleicht sogar polemisch. Wer jemals aufmerksam einen ai-Bericht zur Menschenrechtssituation in der Türkei oder dem Iran gelesen hat, dem müßte der Unterschied zu den Vorwürfen gegen bundesdeutsche Stellen ins Auge fallen. Trotzdem ließ es sich auch Bundesinnenminister Manfred Kanther nicht nehmen, ai "ungerechtfertigte, ungeprüfte" Vorwürfe zu unterstellen. Er bewertete den ai-Bericht vom Mai 1995 als "außerordentlich einseitig, pauschal und nicht hinreichend differenziert".

Erfreulich sachlich äußerte sich hingegen der frühere Bundesinnenminister Gerhart R. Baum, der den Muster-Begriff von ai akzeptierte (ai-Journal 1/1998, S. 15). Ein weiterer Innenminister a. D. hat seine Strategie im Falle von Mißhandlungsvorwürfen gegen Polizeibeamte (intern) ungefähr mit den Worten beschrieben "nach außen kompromißlos vor die Polizei stellen, nach innen die Fetzen fliegen lassen". Dies macht klar, warum ai sich immer wieder in der Öffentlichkeit verteidigen muß und nicht schon längst intensiv über die Umsetzung ihrer Vorschläge diskutiert wird.

Daß es sich zudem nicht "nur um Einzelfälle" handelt, legten Formulierungen der 150 Seiten umfassenden Studie nahe, die von der Innenministerkonferenz in Auftrag gegeben worden war und in Zusammenarbeit mit der Polizeiführungsakademie in Münster-Hiltrup erarbeitet wurde. In der soziologischen Untersuchung wird die Einzelfall-These ausdrücklch verworfen. Es handele sich "weder um ‹bloße Einzelfälle› noch um ein ‹systematisches Verhaltensmuster› der Polizei". Nichts anderes hatte ai behauptet.

Auch wenn man von wirklich unverantwortlichen Artikeln über die ai-Berichte - wie etwa in Focus (42/1997, S. 136ff.) - absieht, die eine erstaunliche Unkenntnis des Ressortleiters sowie der Mitglieder der Redaktion von Menschenrechtsarbeit und ihren rechtlichen Rahmenbedingungen offenbaren, muß man festhalten: Das Problem ist von den meisten politisch Verantwortlichen nicht öffentlich anerkannt worden und wird immer noch nicht ernst genug genommen. Auch die Staatsanwaltschaften haben sich bisher kaum zu der Kritik von ai geäußert.

Was läßt sich schließlich hinsichtlich der Fälle beobachten? Die wenigen Mißhandlungsvorwürfe gegen Polizeibeamte, die vor Gericht verhandelt wurden, ergeben kein einheitliches Bild. Es gab Freisprüche und Verurteilungen. Interessant ist eine Revisionsentscheidung des Berliner Kammergerichtes, die den Freispruch zweier Polizeibeamten durch das Berliner Landgericht mit außerordentlich deutlichen Formulierungen kritisierte (die tageszeitung, Berlin-Teil, v. 7. 8. 1996). Darüber hinaus wurden in mehreren Fällen in Köln und Bremen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wiederaufgenommen. Entschädigungen für die Opfer von Mißhandlungen werden jedoch selten erreicht. Hier gibt es für NGOs noch viel zu tun.

Ein Berliner Richter hat am dortigen Landgericht einen großen Prozeß gegen erst sechzehn, dann zehn Polizeibeamte mit vielen Freisprüchen und wenigen Verurteilungen (drei wegen versuchter bzw. vollendeter Strafvereitelung im Amt sowie einer Verwarnung) beendet. Die Fälle waren nicht in dem ai-Bericht erwähnt. In seiner Urteilsbegründung sagte der Richter: "Das Gericht hat keinen Zweifel daran, daß Übergriffe stattgefunden haben." Straftaten hätten passieren können, weil ein so "enger und schlimmer Korpsgeist" geherrscht habe. Das Gericht sei "mehr oder weniger gescheitert" - an "einer Mauer des Schweigens". Der Berliner Polizeipräsident gab zu Protokoll, daß er trotz der Freisprüche disziplinarrechtliche Schritte gegen die sechzehn Polizisten prüfen werde (die tageszeitung, Berlin-Teil, v. 19. 9. 1997).