Grundrechte-Report 1998

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr, Marei Pelzer
Redaktion: Paul Ciupke, Norbert Reichling, Jürgen Seifert, Stefan Soost und Eckart Spoo
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 1998, ISBN 3-499-22337-6, 320 Seiten, 14.90 DM
 

Till Müller-Heidelberg

Ein Stückchen mehr Rechtsstaat

Grundrechte-Report 1998, S. 186-187

Ein zentraler Baustein des demokratischen Rechtsstaats ist die Kontrolle. Dazu gehört neben der gegenseitigen Kontrolle der Staatsgewalten untereinander auch die gerichtliche Kontrolle jeglicher staatlicher Gewaltausübung. In Art. 19 Abs. 4 GG ist sie zugesagt.

Diese Kontrolle ist am wichtigsten dort, wo der Staat mit Hilfe seiner Sicherheitsbehörden in grundrechtlich geschützte Bereiche eingreift. Die Durchsuchung der nach Art. 13 unverletzlichen Wohnung gehört dazu. Zwar darf die Durchsuchung (außer bei Gefahr im Verzuge) nur durch einen Richter angeordnet werden, unter Fachleuten besteht aber Einvernehmen, daß diese Schranke in der Praxis keinen Schutz darstellt (vgl. den Beitrag von Martina Kant): Eine Vielzahl von Durchsuchungen erfolgt zumindest unter der Behauptung der Gefahr im Verzuge; wird aber eine richterliche Durchsuchung angeordnet, so setzt der Richter lediglich unter den von der Staatsanwaltschaft vorbereiteten fertigen Durchsuchungsbeschluß seine Unterschrift, in aller Regel, ohne diesen überhaupt zu lesen, in nahezu allen Fällen ohne Unterlagen, anhand derer er die Berechtigung der Durchsuchung auch nur annähernd überprüfen könnte. Bei dieser Praxis ist es nicht verwunderlich, daß nach Auffassung wohl aller renommierten Strafverteidiger die Mehrzahl auch richterlicher Durchsuchungsbeschlüsse nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht, folglich rechtswidrig ist.

Da der von einem Durchsuchungsbeschluß Betroffene vorher nichts davon erfährt, ist es um so wichtiger, daß er den Durchsuchungsbeschluß wenigstens nachträglich auf Rechtmäßigkeit überprüfen kann. Art. 19 Abs. 4 GG scheint dies zu gewährleisten. Tatsächlich jedoch gab es diese gerichtliche Kontrolle nicht. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 1978 die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte bestätigt, daß nur während des Andauerns der Durchsuchung (welch ein Hohn!) ein Durchsuchungsbeschluß durch Einlegung von Rechtsmitteln gerichtlich überprüft werden könne, anschließend wegen angeblich mangelnden Rechtsschutzinteresses nicht. Den Schutz der laut Verfassung vermeintlich unverletzlichen Wohnung gab es also tatsächlich weitgehend nicht.

Das Bundesverfassungsgericht hat Größe bewiesen. In seinem Beschluß vom 30. April 1997 (NJW 1997, 2163) hat es ausdrücklich festgestellt, daß seine frühere Entscheidung falsch war. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG soll nicht nur theoretischen Rechtsschutz geben, sondern sie "enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt". Auch nach Beendigung der Durchsuchung können Durchsuchungsbeschlüsse jetzt wieder rechtlich überprüft werden.

Ein Stückchen Rechtsstaat ist wiedergewonnen. Es liegt nun an den Betroffenen selbst - uns allen -, dafür zu sorgen, daß dieser Beschluß nicht "juristische Lyrik" bleibt, wie manche wohlgemeinte Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts, sondern daß mit Hilfe der ordentlichen Gerichte die Strafverfolgungsorgane Polizei und Staatsanwaltschaft in ihre Grenzen verwiesen werden.

Die "Drohung" der nachträglichen Überprüfbarkeit dürfte auch Rückwirkungen auf eine vorherige sorgfältigere Prüfung haben. Allerdings sind berechtigte Zweifel angebracht, ob dies allein ausreicht, um in Zukunft die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben bei Durchsuchungen zu gewährleisten.