Grundrechte-Report 1997

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr und Marei Pelzer
Redaktion: Paul Ciupke, Norbert Reichling, Jürgen Seifert und Eckart Spoo
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-22124-1, 247 Seiten, 14,90 DM

 

Herbert Schmalstieg

Wer beschließt, muß auch zahlen. Aufgabenverlagerungen und Weisungen führen die Kommunen in die Handlungsunfähigkeit

Grundrechte-Report 1997, S. 178-182

Ohne Städte ist kein Staat zu machen; denn Städte und Gemeinden sind die "Schule der Demokratie". Daß der Staat ihnen in Artikel 28 Abs. 2 GG die Selbstverwaltung garantiert, ist deshalb nicht nur für die kommunalen Gebietskörperschaften selbst, sondern auch für den demokratischen Staatsaufbau insgesamt von fundamentaler Bedeutung. Diese Garantie wäre aber bedeutungslos, wenn der Staat nicht zugleich für eine angemessene Finanzausstattung der Städte, Gemeinden und Kreise sorgen würde. Deshalb hat der Gesetzgeber 1994 die Selbstverwaltungsgarantie im Grundgesetz mit dem Zusatz ergänzt: "Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung."

Die Hoffnungen, die an diese Verfassungsänderung geknüpft wurden, haben sich bisher jedoch nicht erfüllt. Im Gegenteil, der Abschluß der Gemeindefinanzreform läßt weiter auf sich warten, und immer häufiger versuchen Bund und Länder, ihre eigenen Finanzprobleme auf Kosten der Kommunen zu lösen. Sie bringen damit den Fortbestand der kommunalen Selbstverwaltung insgesamt in Gefahr.

Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise und angesichts der wachsenden Zahl von Arbeitslosen hat sich die Lage in den etwa 15000 Städten und Gemeinden in der Bundesrepublik dramatisch zugespitzt. Viele von ihnen - jedes Jahr mehr - können keinen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen zum einen im Auseinandergehen von Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung, wobei die Folgen gegenwärtig durch die unbefriedigende konjunkturelle Entwicklung noch verstärkt werden, und zum anderen in der seit Jahren geübten Praxis von Bund und Ländern, immer mehr Kosten, vor allem die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit, auf die Kommunen abzuwälzen.

Daran kann keine Kommune, auch nicht mit noch so sparsamer Haushaltsführung, etwas ändern. Trotz konsequenter Sparmaßnahmen und der Umsetzung zweier Konsolidierungsprogramme im Umfang von mehr als 340 Millionen DM in einem Zeitraum von sechs Jahren muß eine Stadt wie Hannover damit rechnen, daß auch im Jahr 2000 noch immer ein Defizit von rund 250 Millionen DM anfallen wird.

Die kommunalen Steuereinnahmen stützen sich im wesentlichen auf zwei Säulen: den Einkommensteueranteil und die Einnahmen aus der Gewerbesteuer. Sie machen rund 85 Prozent aller kommunalen Steuereinnahmen aus. Wer Hand an diese Einnahmen legt, schränkt die Handlungsmöglichkeiten der Städte und Gemeinden ein. Das wird bereits heute deutlich.

Die ständigen Eingriffe des Bundesgesetzgebers haben dazu geführt, daß die Basis für die Gewerbesteuereinnahmen seit Jahren ausgehöhlt wird. Aufgrund der hohen Freibeträge sind im Bundesdurchschnitt nur noch 16 Prozent der Betriebe steuerpflichtig, damit ist die Gewerbesteuer zur reinen "Großbetriebssteuer" geworden. Die Folgen, die der wirtschaftliche Strukturwandel für das Gewerbesteueraufkommen hat, werden durch die Eingriffe des Gesetzgebers noch verschärft - zumal wenn der Bund seine Pläne zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer verwirklicht.

Die Unfinanzierbarkeit vieler Gemeinden, vor allem der großen Städte, ist auch Ergebnis des strukturellen Ungleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben. Ursachen dafür sind neben der Aushöhlung der Einnahmen hauptsächlich die ständig steigenden Sozialkosten. Diese haben sich allein in den westdeutschen Kommunen seit 1980 mehr als verdreifacht, während ihr Anteil an den Haushalten von Bund und Ländern seit Jahrzehnten zurückgegangen ist. Damit sind es allein die Kommunen, die die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung tragen müssen, obwohl sie selbst die Entwicklungsprozesse, die dazu geführt haben, gar nicht oder kaum beeinflussen können.

Ursachen der steigenden kommunalen Sozialkosten sind:

die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, vor allem der wachsende Anteil Langzeitarbeitsloser;

die gesellschaftliche Desintegration, die zur Zunahme der Anzahl hilfebedürftiger Bevölkerungsgruppen geführt haben (Obdachlose, Alleinerziehende u. a.);

die demographische Entwicklung (der wachsende Anteil Älterer);

die steigende Zahl der Zuwanderer (Aussiedler, Flüchtlinge).

Die Folgen dieser Entwicklung treffen in den letzten Jahren hauptsächlich die Kommunen. Sie müssen am Ende auch dafür aufkommen, daß der Bund einen Teil der Kosten der Deutschen Einheit und der Ausgaben für Zuwanderer in die Sozialversicherungssysteme verlagert hat, deren originäre Versicherungsleistungen deswegen gekürzt oder gestrichen werden. Die kommunale Sozialhilfe, ursprünglich als letztes Glied der sozialen Sicherung konzipiert, muß eine wachsende Zahl von Leistungen übernehmen, die eigentlich in den Aufgabenbereich der vorgeschalteten Sicherungssysteme gehören.

Der rasante Anstieg der Sozialausgaben in den Kommunen setzt sich weiter fort. Zu den gestiegenen Arbeitslosenzahlen seit 1992 kommen die hohen Kostensteigerungen in der stationären Altenpflege hinzu, ferner Kostenverlagerungen von Bund und Land auf die Kommunen, besonders bei Arbeitslosen, Aussiedlern und Flüchtlingen. Obwohl die Kommunen auf die Zuwanderung keinen Einfluß nehmen können, müssen sie in hohem Maße die Kosten tragen.

Zwar sinkt die Zahl der Asylbewerber. Aber die Zahl anderer Flüchtlinge wächst, so daß mehr und mehr Geld für die Sozialhilfe aufgewendet werden muß. Die Reduzierung der Leistungen des Bundes für Aussiedler seit Beginn der 90er Jahre hat die Gefahr, daß Aussiedler dauerhaft zu Sozialhilfeempfängern werden, erheblich vergrößert, zumal auch die Qualifizierungschancen eingeschränkt wurden. Zudem sind immer mehr Arbeitslose wegen Kürzungen der Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz auf immer höhere Sozialhilfezahlungen angewiesen.

Und der Trend zu zusätzlichen Belastungen, die den Kommunen durch Bund und Länder auferlegt werden, hält an: angefangen beim Rechtsanspruch auf den Kindertagesstättenplatz, den der Gesetzgeber eingeführt hat und der nun von den Kommunen umgesetzt und bezahlt werden muß, über die Pflegeversicherung, die bei weitem nicht die den Kommunen versprochene Entlastung bringt, bis hin zu weiterem Leistungsabbau, insbesondere bei Langzeitarbeitslosen.

Alles dies trifft die Kommunen in doppelter Hinsicht. Zum einen werden die finanziellen Möglichkeiten eingeschränkt, die sie zur Erfüllung ihrer eigenen Aufgaben brauchen, und zum anderen wird ihnen auch noch bis ins einzelne verbindlich vorgeschrieben, wie sie die Aufgaben zu erfüllen haben. Statt wie bisher zum Beispiel bei der Schaffung von Kindertagesstättenplätzen aufgrund der Sozialstruktur Ganztagsplätzen Priorität geben zu können, werden sie durch den Bundesgesetzgeber gezwungen, bevorzugt Halbtagsplätze zu schaffen - ohne Rücksicht auf lokale und soziale Strukturen vor Ort. Dabei werden die Standards zugleich so hoch gesetzt, daß die finanziellen Ressourcen allein durch die Erfüllung der Mindestanforderungen aufgebraucht werden.

Nach Recherchen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen hat der Bund im Ergebnis von Steuerrechtsänderungen im Zeitraum 1991 bis 1996 zusätzlich 183 Milliarden Mark eingenommen, während den Kommunen im gleichen Zeitraum insgesamt 4,4 Milliarden Mark an eigenen Einnahmen verlorengingen. Die letzten in der Kette der öffentlichen Haushalte werden sowohl vom Bund als auch von den Ländern als finanz- und haushaltspolitische Manövriermasse behandelt.

Deshalb ist es dringend erforderlich, im Grundgesetz das "Konnexitätsprinzip" zu verankern, wonach derjenige, der eine Aufgabe auf die Kommunen überträgt, auch die notwendigen finanziellen Mittel für die Erfüllung dieser Aufgabe zur Verfügung stellt, wie es in Artikel 104a schon für die Beziehung von Bund und Ländern geregelt ist. Jede Ebene muß für die von ihr beschlossenen Ausgaben auch die Finanzierungsverpflichtung übernehmen.

In den zurückliegenden Jahren ist nicht nur der Finanzspielraum der Kommunen immer enger geworden. Die Gemeinden sind auch in eine immer größere Abhängigkeit von Zuweisungen von Bund und Land geraten. Im Interesse der Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung müssen deshalb dringend die eigenen Einnahmen der Kommunen gestärkt werden. Dies muß vorrangiges Ziel der Gemeindefinanzreform sein. Abzulehnen sind hingegen die in Bonn nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Einheitswerten angestellten Überlegungen, den Handlungsspielraum der Kommunen bei der Grundsteuer zu beschränken oder die Erhebung kommunaler Steuern zu verhindern.

Kurz: "Selbstverwaltung" steht zwar noch auf dem Papier, aber in der Realität kann davon nicht mehr die Rede sein. Hier ist eine Umkehr nötig, denn ein demokratischer Staatsaufbau, der seine Grundlage verliert, gerät in akute Gefahr.