Grundrechte-Report 1997

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr und Marei Pelzer
Redaktion: Paul Ciupke, Norbert Reichling, Jürgen Seifert und Eckart Spoo
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-22124-1, 247 Seiten, 14,90 DM

 

Ursula Neumann

Die Kunst, den Bogen ungestraft zu überspannen - Religionsfreiheit und Religionsunterricht

Grundrechte-Report 1997, S. 95-100

Vom katholischen Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt stammt der Satz: "Die rechtliche Stellung des Religionsunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland ist im Vergleich zu den meisten anderen Ländern einzigartig" (Degenhardt am 23. Januar 1989). Daraus ergibt sich: Der Religionsunterricht ist für die Wertevermittlung ohne Bedeutung, denn deutsche Jugendliche unterscheiden sich in Einstellung und Verhalten nicht von Jugendlichen vergleichbarer Länder. Damit ist das Hauptargument zu seiner Rechtfertigung hinfällig, und es bleibt eigentlich nur noch der Verweis auf seine Legalität. Aber auch die Kirchen wissen, was die Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht von 1994 formuliert: "Eine formale Berufung auf das Grundgesetz reicht nicht aus."

 

1. Vom Recht zur Pflicht

Der Grundgesetzartikel, um den es geht, ist Artikel 7 II und III. Er wurde aus der Weimarer Reichsverfassung von 1919 übernommen. Er ist eine Ausnahme des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche und mag zu Zeiten der Volkskirche akzeptabel gewesen sein. Ursprünglich gemeint als Recht der Bürgerinnen und Bürger auf "ihren" Religionsunterricht, ist er heute Recht der Großkirchen auf staatliche Finanzierung und Einflußsicherung. Mit der Formulierung, der Religionsunterricht sei ein "ordentliches Lehrfach", wird den Schülerinnen und Schülern - nicht den Kirchen! - das Recht auf eine sachlich und personell ausreichend ausgestattete religiöse Unterweisung in der Schule eingeräumt. Aus dem Recht wurde allmählich eine Pflicht zur Teilnahme. So heißt es im baden-württembergischen Amtsblatt 1986: "Der Religionsunterricht ist ... ordentliches Lehrfach. Damit ist jeder Schüler ... grundsätzlich zur Teilnahme am Religionsunterricht seines Bekenntnisses verpflichtet."

Zunächst gab es im Religionsunterricht keine Noten, er war nicht versetzungsrelevant. Entsprechende Bestrebungen wurden 1954 als "klar den Bestimmungen des Grundgesetzes" zuwiderlaufend abgelehnt (Landtag Baden-Württemberg). 1973 entschied dann das Bundesverwaltungsgericht, daß beides möglich sei: Benotung oder Nichtbenotung (BVerwGE 42,352). Dies ist dann ausnahmslos im Sinne der Versetzungsrelevanz umgesetzt worden. Die Abmeldung vom Religionsunterricht wurde im Laufe der Zeit erschwert.

 

2. Delegation des staatlichen Erziehungsauftrags an die Kirchen?

Daß der Staat eine "Leistungspflicht" (Link, 1995) im Bereich der Werteerziehung habe, die er in Form des Religionsunterrichts an die Kirchen delegiere, ist kein stichhaltiges Argument. Hat der Staat diese Pflicht, so bezieht sie sich auf alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen. Er kann sie nicht an den Religionsunterricht delegieren: Denn dieser ist in erster Linie Glaubensvermittlung. Vermittelt er darüber hinaus Werte im Sinne der Verfassung - um so besser. Aber vorausgesetzt werden kann das keinesfalls. Das staatliche Aufsichtsrecht über den Religionsunterricht beschränkt sich auf die äußere Organisation (zum Beispiel Einhaltung des Stundenplans). Jegliche inhaltliche Einflußnahme ist - mit Recht! - ausgeschlossen. Die Übertragung einer staatlichen Aufgabe an wen auch immer unter explizitem Ausschluß der Möglichkeit, Ziele und Inhalt zu bestimmen oder das Ergebnis zu kontrollieren, ist aber ein Unding.

 

3. Die Aufweichung der konfessionellen Bindung des Religionsunterrichts

Nur der konfessionelle Religionsunterricht ist durch die Verfassung gedeckt (BVerfGE 74,244). Inzwischen verficht aber besonders die evangelische Kirche eine Konzeption des Unterrichts als kirchlicher Dienstleistung für alle Schülerinnen und Schüler. Die Kirchen schreiben sich selbst das Definitionsmonopol zu, was Religionsunterricht ist, um die konfessionelle Öffnung zu ermöglichen: "Wenn die Kirchen das Prinzip der konfessionellen Schülerhomogenität modifizieren, muß der Staat ... diese Modifikation eines kirchlichen Grundsatzes hinnehmen ..." (A. v. Campenhausen, 1996). In Sachsen zum Beispiel bedeutet "Modifikation", daß 46 Prozent der am evangelischen Religionsunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler nicht getauft sind. Eine ähnliche Aufweichung wird durch das Streben nach Fächerverbünden gefördert. Religionsunterricht ist Glaubensvermittlung - Schule darf aber nicht missionarisch sein: Dieses Problem soll vermutlich nach dem Vorbild der Kreuze gelöst werden, die je nach Betrachter vom Glaubenssymbol zum Kultursymbol mutieren.

 

4. Das Ersatzfach "Ethik" als staatliche Parteinahme für den Religionsunterricht

Der Ethikunterricht in Westdeutschland ist eine von den Kirchen geforderte Stützungsaktion des von einer Abmeldewelle bedrohten Religionsunterrichtes: "Durch ein solches Fach werden Unzuträglichkeiten gemildert, die sich aus der Sonderstellung eines Faches mit Abmeldemöglichkeit ergeben ..." (Gemeinsame Synode der Bistümer, 1974). Zielgruppe waren zunächst ausschließlich solche Schülerinnen und Schüler, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben. Sie werden als "religionsunterrichtspflichtig" angesehen. Es gibt aber keine Pflicht zu diesem Unterricht, sondern nur ein Recht darauf. Und in der Natur eines Rechtes liegt es, daß seine Wahrnehmung freigestellt ist. Niemand käme auf die Idee, Menschen eine Ersatzleistung abzuverlangen, die von ihrem Versammlungsrecht oder dem Recht auf freie Meinungsäußerung keinen Gebrauch machen. Vollends absurd ist, daß "Ethik" auch für konfessionslose Schülerinnen und Schüler Pflichtfach wird. Denn sie sind selbst im Sinne der Kirchen nicht "religionsunterrichtspflichtig". Ohne originäre Pflicht keine Ersatzpflicht!

Der Ethikunterricht ist bewußt abschreckend gestaltet: Er wurde auf Drängen der Kirchen in Westdeutschland "Ersatzfach" statt Alternativfach. Die Konsequenz ist, daß er nicht stattfinden darf, wenn kein Religionsunterricht zustande kommt. Dann lieber keine Werteerziehung! Bei jedem anderen Fach würde es als Skandal empfunden, bei Ethik ist es seit zwanzig Jahren normal: Es gibt keinen Ausbildungsgang dafür (Ausnahme neuerdings: Sachsen). Im Abitur ist das Fach schlechter gestellt als der Religionsunterricht, es gibt keine Leistungskurse. In einigen Bundesländern besteht ein Verbot, für Ethikunterricht zu werben.

Zeugen Jehovas, Mormonen, Neuapostolische, teilweise auch Muslime werden vom Ethikunterricht (nicht vom Religionsunterricht!) befreit und müssen lediglich eine Bescheinigung bringen, daß sie an einer (unkontrollierbaren) außerschulischen religiösen Unterweisung teilnehmen. Das ist pikant, wenn staatliche Stellen zum Beispiel den Zeugen Jehovas absprechen, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Deren religiöse Unterweisung aber ersetzt ein Fach, das die Werte der freiheitlich demokratischen Grundordnung vermitteln soll. Weitere (fundamentalistische) Gruppierungen verlangen unter Berufung auf das Elternrecht und die Gewissensfreiheit gleiche Regelungen und werden sie bekommen. Eltern und Kinder, die nicht religiös organisiert sind, haben dagegen keine Chance. Die Mitgliedschaft in einer Organisation wird zum Kriterium dafür, ob die Berufung auf ein Grundrecht berechtigt ist oder nicht. Das Argument, die Organisierten erbrächten - im Gegensatz zu Nichtorganisierten - den Zeitaufwand für die religiöse Unterweisung, ist formalistisch und unterschlägt die Frage, ob auch die Unterweisung in einem autoritären und intoleranten Glauben besser als "nichts" ist.

 

5. Von der Teilnahme am staatlichen Erziehungsauftrag zum kirchlichen Monopol für Wertevermittlung

Das Land Brandenburg (25 Prozent Christen) hat das Fach "Lebensgestaltung - Ethik - Religionen" eingerichtet. Die Kritik daran macht erschreckend deutlich, wie weit die Gleichsetzung von Werteerziehung mit religiöser Werteerziehung gediehen ist. Der Glaube an eine alleinseligmachende religiöse Werteerziehung nimmt in dem Maße zu, wie ihre tatsächliche Bedeutung abnimmt. Die Süddeutsche Zeitung kritisiert "Der Staat als Religionslehrer" (27.2.96), das Sonntagsblatt (3.11.95) empört sich "Der Staat will Kirche spielen".

Die Kirchen beanspruchen ein Mitbestimmungsrecht, wenn es um die Einrichtung eines Faches geht, das Werte, Religionskunde usw. zum Inhalt hat. "Eine Allzuständigkeit des Staates für die Schule würde die Gefahr des Totalitarismus mit sich bringen" (Stellungnahme der deutschen Bischöfe zum Religionsunterricht, 1996). Zurück zur geistlichen Schulaufsicht!

Der Streit um "Lebensgestaltung - Ethik - Religion" zeigt auch: Verlangen die Kirchen die Einrichtung des Faches Ethik, sehen sie kein Problem mit dem Gebot weltanschaulicher Neutralität des Staates, vielmehr: "Der Ethikunterricht ... sichert ... den sittlichen Erziehungsauftrag der Schule" (Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, 1989). Im Osten dagegen: Neutrale Erziehung "... wird notwendig zu einer glaubensfeindlichen Erziehung, sollte auch der Glaube nicht unmittelbar angegriffen werden" (Hirtenwort der Bischöfe von Berlin, Görlitz und Magdeburg, 1996).

 

6. Lösungsmöglichkeiten

Eine Diskussion über Art. 7. II und III GG erübrigte sich, wenn der Artikel wieder so praktiziert würde wie vor 50 Jahren, denn der Religionsunterricht existiert nicht aus eigener Kraft, sondern nur dank staatlicher Stützungsaktionen. Ein einseitiges Geschäft: Ob viele oder wenige Schülerinnen und Schüler am Religionsunterricht teilnehmen, ist für die Moral in unserer Republik belanglos, wie ein Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn zeigt. Vielleicht befördert es die Kosten-Nutzen-Analyse, wenn schulischer Religionsunterricht (einschließlich Finanzierung der Lehrerausbildung!) von Moslems und Sektenangehörigen eingeklagt wird. Deren Recht darauf ist nicht geringer als das der Großkirchen.

Die Verfassung weist einen Weg: In bekenntnisfreien Schulen ist Religionsunterricht nicht ordentliches Lehrfach. Es liegt - bei Berücksichtigung des Elternwillens - in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die bekenntnisfreie Schule zur Regelschule zu machen. Die christliche Gemeinschaftsschule wurde schon 1975 nur mit knapper Not für verfassungskonform erklärt. Inzwischen ist einiges anders.

 

Literatur

Axel v. Campenhausen, Zeitschrift für evgl. Kirchenrecht, 41 Jg, Heft 1/96, S. 127; Christoph Link, Religionsunterricht, in: Joseph Listl und Dietrich Pirson (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Bd. 2, Berlin 1995, S. 483.