Grundrechte-Report 1997

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr und Marei Pelzer
Redaktion: Paul Ciupke, Norbert Reichling, Jürgen Seifert und Eckart Spoo
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-22124-1, 247 Seiten, 14,90 DM

 

Ralf Kleindiek

Die Bäume werden trotzdem nicht in den Himmel wachsen - Zum neuen Staatsziel Umweltschutz

Grundrechte-Report 1997, S. 165-179

Mit der Änderung des Grundgesetzes vom 27.10. 1994 wurde der Umweltschutz als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen. "Der Staat", so heißt es in dem eingefügten Artikel 20a GG, "schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen." In der Verfassung für die Risikogesellschaft, in der die Menschheit mit der industriellen Vernichtungsmöglichkeit oder zumindest irreversiblen Schädigung allen Lebens auf Erden durch den Menschen konfrontiert ist (Ulrich Beck), erfolgt mit dem Staatsziel Umweltschutz eine längst überfällige verfassungsrechtliche Hinwendung zum Schutz der Umwelt jenseits des Menschen: Nicht mehr die Natur gefährdet den Menschen, sondern die fortschreitende Umweltzerstörung ist eine der markanten Errungenschaften unserer Zivilisation auf dem Weg in eine andere Moderne.

Mit Art. 20a GG wurde die Verfassung geändert, nicht aber die gesellschaftliche Wirklichkeit. Obwohl nach ziemlich genau zwei Jahren verfassungskräftigem Staatsziel Umweltschutz dessen Tragweite noch nicht vollends absehbar ist, läßt sich eine - mehr fragende - Zwischenbilanz ziehen. Hat sich dadurch etwas geändert (im Sinne des Umweltschutzes verbessert!?), daß der Staat nun zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet ist? Wie stark kann diese Verpflichtung überhaupt sein gegenüber anderen, vor allem wirtschaftlichen Interessen? Was bedeutet es demnach, daß der Umweltschutz als Staatsziel formuliert ist? Die Beantwortung dieser Fragen setzt jedoch voraus, sich ein wenig Klarheit über die Verwirklichung ökologischer Belange vor der Änderung des Grundgesetzes zu verschaffen.

Auch vor der Verfassungsänderung war der Umweltschutz im Grundgesetz präsent, auch wenn er nicht ausdrücklich benannt war. Vor allem die Grundrechte verpflichten den Staat, nachdem sie zu Recht aus einem nur abwehrrechtlichen Verständnis herausgelöst wurden, auch zum Schutz von Leben und Gesundheit der Menschen vor Umweltrisiken; genaugenommen vor Belastungen, die Menschen der Umwelt zufügen und die sich dann als Umweltzerstörung wieder gegen die Menschen richten. So hat die Rechtsprechung Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Lärm, Gefährdungen durch Schadstoffe in der Luft, im Wasser, in Böden oder Lebensmitteln, durch radioaktive Strahlungen oder durch die Herstellung gentechnisch veränderter Organismen als mögliche Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit angesehen.

Grundrechte können jedoch "nur" menschliche Freiheit schützen bzw. gewährleisten und sind deshalb nur bedingt geeignet, die komplexen Ursache-Wirkung-Beziehungen rechtlich zu verarbeiten, die den genannten Gefährdungen zugrunde liegen. Sie sind zudem nicht unmittelbar zum Schutz der Umwelt oder der kommenden Generationen einsetzbar. Deshalb war Umweltschutz durch die Verfassung bisher immer nur über den "Umweg" des Menschenschutzes möglich. Die natürlichen Lebensgrundlagen konnten nicht um ihrer selbst oder der zukünftigen Generationen, sondern nur um der gegenwärtigen Generation willen geschützt werden. Dann stehen dem Recht auf Gesundheit jedoch ökonomische Interessen an der Nutzung etwa der Kernenergie oder der Herstellung gentechnisch veränderter Organismen entgegen, die ebenfalls grundrechtlich geschützt seien. Diese gegenläufigen Interessen muß der Gesetzgeber durch Abwägung zum Ausgleich bringen. Hierbei räumt vor allem das Bundesverfassungsgericht dem (demokratisch legitimierten) Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum ein, der es ihm auch erlaubt, den Menschen und der Umwelt die Restrisiken der Kernenergie (auch ohne Endlagerungsmöglichkeit) und der Gentechnik (auch ohne Rücksicht auf natürliche Evolutionsbarrieren) aufzubürden.

 

Mehr Umweltschutz durch Artikel 20a?

Als das Staatsziel Umweltschutz in die Verfassung aufgenommen wurde, lagen die Probleme also auf der Hand. Deshalb läßt sich auch nicht mehr ernsthaft bestreiten, daß mit nachwachsenden Ressourcen schonend und mit nichterneuerbaren Ressourcen sparsam umgegangen werden muß. Zudem muß sich präventiver Umweltschutz gegen Risiken richten, die noch nicht absehbar sind, sich aber in der Zukunft verwirklichen können.

Indem gemäß Art. 20a GG die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen sind, ist die Wiederherstellung von durch menschliches Handeln zerstörten oder geschädigten Lebensräumen und die Abwendung von Gefahren nun zumindest der Idee nach auf ein weiteres verfassungsrechtliches Bein gestellt. Das Staatsziel Umweltschutz geht nämlich über das bisher nur anthropozentrische, also auf den Menschen gerichtete Verfassungsverständnis hinaus. Setzt man diesen Gedanken fort, dann kann sich ein so verstandener Umweltschutz durch die Verfassung auch gegen andere, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Interessen und damit gegen Grundrechte richten. Das Staatsziel Umweltschutz kann und wird auch Grundrechte beschränken müssen, will es wirksam sein. In den eben angeführten Grundrechtskonflikten könnte den ökologischen Belangen wegen der Verfassungspflicht zum Umweltschutz gegenüber den ökonomischen Interessen nun der Vorrang einzuräumen sein; Art. 20a GG könnte und müßte die Abwägung von Grundrechtskonflikten beeinflussen.

Obwohl der Umweltschutz nun Verfassungsrang hat, ergeben sich Einschränkungsmöglichkeiten von Grundrechten jedoch nur, soweit der Inhalt des Staatsziels reicht. In der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern, die im wesentlichen unter Ausschluß des Souveräns Volk über die Verfassungsänderung beraten und beschlossen hat, war man sich einig, daß der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in einem eher abstrakten Sinn zu verstehen ist, der an die konkreten umweltpolitischen Kontroversen zumeist nicht heranreicht. Vor allem CDU/CSU und FDP hatten nämlich die Befürchtung, daß insbesondere die Gerichte bei der Auslegung von Gesetzen und der Entscheidung von Konflikten den Art. 20a GG als Einfallstor für eine zu weit gehende Ökologisierung nutzen werden. So ist etwa der Tier- und Artenschutz in Art. 20a GG nicht gemeint, sonst wären etwa Einschränkungen der Forschungsfreiheit zugunsten des Tier- oder Pflanzenschutzes möglich. Die Anforderungen sind also sehr hoch; denkbar ist jedoch, etwa im Bereich der Gentechnik Einschränkungen auch unter Berufung auf das Staatsziel Umweltschutz zu rechtfertigen, etwa wenn durch wissenschaftlich-technische Manipulation natürliche Evolutionsbarrieren durchbrochen und so die natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet werden.

Gleichwohl läßt Art. 20a GG die Bestimmung dessen, was an Schutz für die Umwelt tatsächlich erforderlich ist, völlig offen. Dies liegt auch daran, daß die zum Verfassungsgesetz gewordene Formulierung einen Kompromiß darstellt zwischen der CDU, die eine anthropozentrische Ausrichtung des Staatsziels ("Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem Schutz des Staates") verlangt hatte und so im wesentlichen alles beim alten lassen wollte, und der SPD, die die Umwelt ohne diesen Bezug auf den Menschen unter den "besonderen" Schutz des Staates stellen wollte. Viel mehr, als daß hinter das gegenwärtige Schutzniveau nicht zurückgetreten werden darf, wird dem Art. 20a GG deshalb wohl nicht entnommen werden können.

Dies liegt auch daran, daß Art. 20a GG ein Staatsziel formuliert. Ein Staatsziel ist eine Verfassungsnorm mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung des Ziels vorschreibt. Es umreißt ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und ist damit Richtlinie und Direktive für die Gesetzgebung sowie für die Auslegung und Anwendung der Gesetze durch die Rechtsprechung und die vollziehende Gewalt. Immerhin - eine Verpflichtung also und nicht nur der Hinweis, man möge auch Umweltschutzbelange berücksichtigen. Mehr aber auch nicht. Vor allem kann ein Staatsziel allein keine subjektiven einklagbaren Rechte der einzelnen begründen; weder für sich noch für die Umwelt. Es kann bestenfalls die Auslegung auch der Grundrechte beeinflussen, die gerade im Bereich der ökonomischen Freiheit zur Verhinderung von Umweltschutz herangezogen werden. Vorstellbar ist deshalb, daß sich der Gesetzgeber bei der Regelung eines Lebenssachverhaltes für die umweltfreundliche Alternative entscheiden müßte.

Ganz in diesem Sinne hat das Bundesverwaltungsgericht bereits 1995 den Art. 20a GG auch zur Auslegung des einfachen Rechts (hier des Baurechts) herangezogen und darauf hingewiesen, daß das Staatsziel Umweltschutz in seiner Funktion als verfassungsrechtlich angeordneter Auslegungsgrundsatz immer dann anzuwenden ist, wenn "öffentliche Belange" oder "öffentliche Interessen" zu berücksichtigen sind. Ob Art. 20a GG in diesem Sinne eine eigenständige Bedeutung erlangen oder über ein nur symbolisches Bekenntnis kaum hinausgehen wird, wird die zukünftige Gesetzgebung und -anwendung zeigen. Die Prognose hierüber darf jedoch nicht zu positiv ausfallen. Ob sich das Staatsziel Umweltschutz gegen die handfesten, in der Industriegesellschaft gewachsenen, auch grundrechtlich gefestigten und geschützten Interessen der Profitmaximierung jenseits ökologischer Belange, die zudem der staatlichen Regulierung zunehmend entzogen werden, durchzusetzen vermag, muß vorerst noch bezweifelt werden.

Deshalb bleibt es dabei: Eine menschen- und naturgerechte Lebenswelt wird sich nur verwirklichen lassen, indem der gesellschaftliche Druck innerhalb und außerhalb der Parlamente stetig zunimmt.