Grundrechte-Report 1997

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

hrsg. von Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Wolf-Dieter Narr und Marei Pelzer
Redaktion: Paul Ciupke, Norbert Reichling, Jürgen Seifert und Eckart Spoo
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-22124-1, 247 Seiten, 14,90 DM

 

Wolfgang Ullmann

Bürgernähe - Bürgerferne. Zum europäischen Demokratiedefizit

Grundrechte-Report 1997, S. 170-177

Der Vertrag von Maastricht legt fest, mit der Europäischen Union werde eine Union von Völkern begründet, in der die politischen Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden. Möglichst bürgernah - das ist eine Absichtserklärung. Man wird ihr auch nicht bestreiten können, daß sie eine demokratische Tendenz verfolge. Aber genügt es für eine Demokratie, demokratische Absichten zu verfolgen? Und enthält der zitierte Satz nicht auch das unfreiwillige Eingeständnis, es handele sich bei den Entscheidungen jedenfalls nicht um solche der Bürger?

Eine Antwort auf diese Frage wird mittlerweile auf allen Ebenen der Europäischen Union für unabdingbar gehalten. Die Gefahr, daß die von den Regierungen der Mitgliedsländer geschaffene Union eine "Union von oben" und eine Union der Brüsseler Bürokratien bleibt, ist nicht nur dem Parlament, sondern auch Rat und Kommission bewußt.

Darum darf die Regierungskonferenz zur Revision des Unionsvertrages nicht nur über die klarere rechtliche Ausgestaltung des Unionsbürgerrechtes debattieren. Und dieses Bürgerrecht darf nicht nur ein Anhängsel des Staatsbürgerrechtes der Mitgliedsländer mit Wahlrechten für Kommunal- und Europawahlen bleiben oder dem Recht, kontrollfreie Grenzübergänge zu benutzen.

Eine in den Unionsvertrag aufgenommene Charta von Grundrechten muß so ausgestaltet sein, daß die Unionsbürger analog dem bekannten mittelalterlichen Rechtssprichwort "Stadtluft macht frei" im modernen Europa erfahren können: "Unionsluft macht frei", nämlich frei nicht nur im Sinne von Reise-, Niederlassungs- und Anstellungsfreiheit, sondern vor allem frei zur Einsicht in Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozesse, frei zur Bewegung in allen europäischen Sozial- und Rechtskulturen.

Die bisher auf den Binnenraum ohne Grenzen beschränkte Kompetenz des Europäischen Gerichtshofes müßte ausgeweitet werden auf alle Bereiche einer solchen Grundrechtscharta.

Eine weitere Quelle notorischer Bürgerferne europäischer Politiken ist die Diskrepanz zwischen dem Binnenraum ohne Grenzen und der völlig anderen Struktur der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Justiz- und Innenpolitik (sogenannte 2. und 3. Säule). Weder das Europäische Parlament noch die Parlamente der Mitgliedsländer haben in diesen Bereichen genügend Kontroll- und Einflußmöglichkeiten.

Natürlich ist die Sorge um den Verlust von Souveränitätsrechten bei den Regierungen der Mitgliedsländer weit verbreitet. Ein erster Schritt zur Überwindung der hier obwaltenden Blockade von dringend erforderlichen Integrationsschritten wäre die Überwindung der verfassungsrechtlichen Abnormität, daß bis jetzt nur die Europäischen Gemeinschaften Rechtspersönlichkeit besitzen, nicht aber die Europäische Union. Ein Unionsrecht, das von einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit der Union getragen wird, wäre gewiß ein Schritt in völkerrechtliches Neuland, aber auch ein Durchbruch in Richtung auf demokratische Transparenz.

Er würde die Union auch dafür stärken, endlich den Schritt von einer bloß westeuropäischen zu einer gesamteuropäischen Demokratie zu tun. Ohne jeden Zweifel ist diese Richtung einer Transformation der nationalen Demokratie in Völkerdemokratie auch diejenige, die sie befähigt, nicht mehr nur "möglichst bürgernah", sondern bürgerbestimmt und freiheitsorientiert zu werden und zu bleiben.